Bruce Springsteen – Only The Strong Survive – Columbia 2022

Von Guido Dörheide (15.11.2022)

Oha – ein neues Springsteen-Album und dazu eins voller Coverversionen von Soul-Stücken, also Songs eines musikalischen Genres, mit dem ich mich nahezu nicht auskenne. Eigentlich möchte ich darüber nicht schreiben, aber seit einigen Tagen möchte ich das Album immer wieder hören, weil es sehr gut ist, und so denke ich, ich bin es dem Künstler schuldig, hier die gefühlt 1001. Rezension seit dem Erscheinen von „Only The Strong Survive“ hinzuschreiben.

Wie immer, wenn ich in einer Stilrichtung kaum bewandert bin, stelle ich mir die Frage „Was schreiben die anderen?“ und stelle fest, dass Springsteen sich über die Jahrzehnte ein Ausmaß an Unantastbarkeit erarbeitet hat, das dazu führt, dass es ausschließlich positive Rezensionen zum neuen Album zu geben scheint. Das hat mich zunächst überrascht, weil das Geschäftsmodell „Verdienter alter Haudegen des mit herzzereißenden Balladen angereicherten hemdsärmeligen Stadionrocks covert Songs, die ihm am Herzen liegen“ eigentlich zuverlässig zum Verreißen einlädt. So beruhigt mich ein Artikel im von mir gerne gelesenen Wiener „Standard“, der unter der Überschrift „Weit daneben ist auch vorbei“ eine amtliche Schmähung des Albums abliefert. Der unglaublich lesenswerte Artikel enthält zahlreiche wirklich gute Punkte, die unterhaltsam und nachvollziehbar ausgeführt werden, dennoch bringe ich es nicht übers Herz, mich ihm inhaltlich vollumfänglich anzuschließen.

Wenn bis hierher der Eindruck entstanden ist, dass ich nicht unbedingt bereit bin, mich inhaltlich mit dem vorliegenden Werk auseinanderzusetzen und stattdessen lieber über Springsteen im Allgemeinen herumzuschwafeln gedenke – da liegen Sie goldrichtig! Weiters werde ich es schaffen, in diesem Artikel kein einziges Mal den Ausdruck „Der Boss“ zu verwenden und auch nicht darauf hinzuweisen, dass Springsteen die wichtigste Stimme der amerikanischen Arbeiterklasse ist, auch wenn er – womit er auch sympathischerweise seit Jahrzehnten kokettiert – niemals sein Brot als Arbeiter verdienen musste, sondern früh in der Lage war, den Lebensunterhalt mit seiner Kunst zu bestreiten. Und auch das Wort „New Jersey“ wird mir in diesem Text kein einziges Mal über die Tastatur kommen.

Selbstverständlich habe ich Springsteen nie persönlich getroffen, dennoch ist er mir unglaublich sympathisch, er erscheint mir glaubwürdig und bodenständig, hat eine Stimme und eine Art zu singen, die mich anspricht, und macht immer genau das, womit niemand gerechnet hätte und was dann genau passt, so wie die sprichwörtliche Faust aufs Butterbrot.

Nachdem sich Springsteen auf den ersten beiden Alben warmgelaufen hatte, lieferte er mit „Born To Run“ und „Darkness On The Edge Of Town“ zwei umwerfende Rockalben für die Ewigkeit ab, die er mit „Born In The U.S.A.“ mühe- und nahtlos hätte fortsetzen und sich so den Weg in die weltweiten Austragungsorte des Rasensports schon einige Jahre früher ebnen können. Aber was macht Springsteen? Er geht bei und bringt erst mit „The River“ ein überlanges Doppelalbum heraus, das nichts auf den Punkt bringt, gerne mal abschweift, dem Künstler allen Raum der Welt lässt und legt dann zwei Jahre später „Nebraska“ nach, ein düsteres Werk voll hoffnungsloser Schönheit und US-amerikanischer Düsternis. Und dann – „Born In The U.S.A.“, dessen Titelsong die USA böse kritisiert und der trotzdem von bildungsfernen Polit-Proleten als Wahlkampfhymne missbraucht zu werden drohte. Vergleichbar mit Neil Youngs „Rockin‘ In The Free World“. Das Album ließ sich nur mit einem 5-LP-Boxset von Springsteens Konzerten zwischen 1975 und 1985 toppen. Dennoch gelang es Springsteen, nur drei Jahre nach „Born In The U.S.A.“ mit „Tunnel Of Love“ ein noch besseres Album abzuliefern. Dann die 1992er-Doppelveröffentlichung „Human Touch“ und „Lucky Town“ – geschenkt, wirklich gut, aber seine besten Zeiten hat Springsteen jetzt nun wirklich hinter sich gelassen. Dachte ich. Und dann 1995 „The Ghost Of Tom Joad“. Wäh? Hammer!!! Der Titelsong wurde einige Jahre später von Rage Against The Machine (!!!) gecovert.

Mit „The Rising“ erschien 2002 das von der Weltbevölkerung sehnlichst erwartete Statement zum 9-11. Und alles, was Springsteen danach veröffentlichte, habe ich sehr gerne gehört. Und nicht zu allerletzt ist eines meiner Lieblingsstücke of all time – „Arbeit“ von Ostbahn-Kurti – die Coverversion eines 70er-Jahre-Springsteen-Songs, nämlich „Factory“.

Soviel also die Vorrede – ich halte Springsteen für einen von den Großen, von den Guten und von den Bedeutenden. Und ich mag seine Stimme. Hier jetzt noch einige Gedanken zu einzelnen Songs des neuen Albums:

Das Titelstück „Only The Strong Survive“ – im Original von Jerry Butler – beginnt mit Sprechgesang und steigert sich dann zu einer sehr gefühlvoll vorgetragenen und mit Schmackes angereicherten Gesangsdarbietung, die E-Street-Band (die über die ganze Albumlänge abliefert wie nur was und hoffentlich von ihrem Chef am Ende das ihr zustehende Salär ausgezahlt bekommen hat) sorgt für das notwendige schmissige Soul-Feeling, mir gefällt das auf jeden Fall.

Beim zweiten Stück („Soul Days“ von Dobie Gray), das gleich nach den ersten Takten mit Bruces kratziger, unverkennbarer Stimme beginnt, unterstützt gesanglich Sam Moore von Sam & Dave („Soul Man“), und das haut gut hin.

Dann „Nightshift“ – und es klingt so, als hätte Springsteen es genau jetzt eigens für Marvin Gaye auf den Markt geworfen und nicht bereits die Commodores im Jahr 1985. Großartig.

Nächstes Highlight: „The Sun Ain‘t Gonna Shine Anymore“ von Frankie Valli, bekannt geworden durch die Version von den Walker Brothers. Bruce‘ Stimme passt perfekt zu dem Song, musikalisch stimmt hier auch alles – tau schön!

Und es geht echt so weiter und weiter – die Musik passt immer 100%ig, Springsteens Stimme nebst Vortrag auch – dieses Album macht Laune und wärmt das Herz. Auch wenn ich mich erstmal dran gewöhnen muss, dass Springsteen eine überaus soulkompatible Stimme hat – die hat er tatsächlich. Weitere Anspieltipps: „Hey, Western Union Man“ und „7 Rooms Of Gloom“, auf dem der Interpret zunächst mit Nachdruck in den sprachverstärkenden Stimmwandler spricht und dann auf einmal unheimlich losgroovt – und dazu singen soulige Backgroundchöre und die Band lässt den Sound der 1950er Jahre auferstehen – wunderbar. Mit „What Becomes Of The Brokenhearted“ (Jimmy Ruffin) und „Someday We‘ll Be Together“ (Johnny & Jackey bzw. Diana Ross & The Supremes) findet das Album einen superstimmungsvollen Abschluss. Angesichts des fortschreitenden Verfalls der Welt hätte ich ein anderes Statement von Springsteen erwartet, aber eine Rückkehr in die musikalische Welt seiner Kindheitstage war mit Abstand nicht das Dümmste, was dieser schlaue Künstler hätte anstellen können. Klasse!