Von Guido Dörheide (30.12.2022): Guido Dörheides Album des Jahres
Ja. Ich weiß. „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ ist bereits am 11. Februar 2022 erschienen. Warum habe ich darüber noch nichts geschrieben, und warum tue ich es jetzt doch noch?In der Tat hatte ich bereits am 15. Februar angefangen, einige Zeilen über dieses wundervolle Album zu tippen, und dann bin ich irgendwie abgebrochen, vermutlich, weil mir Band und Album sehr am Herzen liegen und mich sehr begeistern, und da fiel mir meine Deutschklausur weiland in den frühen 90ern über Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ wieder ein (meine Lieblingskurzgeschichte), die ich ob meiner Begeisterung über das Werk auf geradezu abenteuerliche Weise verkackt habe.
Aber, wie mein Chef sagt, man muss immer wieder über den Schmerz hinausgehen und somit würdige ich Big Thief hiermit im Rahmen der hier erstmalig erscheinenden Rubrik „Guido Dörheides ALBUM DES JAHRES“.
Oisdann – gemmas o:
Diese Stimme ist so speziell, dass ich sie mit überhaupt gar nichts vergleichen mag – Adrienne Lenker, Kopf und Stimme von Big Thief, singt so einzigartig, dass in meinen Augen an das Werk ihrer Band sowie ihr Solo-Werk im Bereich Neo-Folk/Alternative Folk/Irgendwasmitfolk einfach nichts heranreicht. Recht hell, leicht rauh, brüchig, und dennoch voller Gefühl. Und es ist auch nicht nur die Stimme – Adrienne Lenker denkt sich Lieder aus, die sonst niemandem einfallen würden. Und Abumtitel erstmal: An „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ kommt nichtmal Fiona Apple so ohne weiteres ran. Es handelt sich um ein abgewandeltes Zitat aus „Anything“ aus Lenkers 2020er Solo-Album „Songs“.
Außer Lenker bestehen Big Thief aus Lenkers Ex-Mann Buck Meek (Gitarre), Max Oleartchik (Bass) und James Krivchenia (Drums). Und zusätzlich zum Indie-Folk-notwendigen g/b/dr-Setup gibt es bei Big Thief noch Geige, diverse Percussion, eine Pedal Steel (Yess!!!), Flöte, etwas dezente Elektronik und – auf „Spud Infinity“, das ich gerade als erstes Highlight des Albums lobpreisen wollte – eine Maultrommel. Hammer!Also wie schon fast gesagt startet das Album mit wirklich schönem Indie Folk und Adrienne Lenkers bemerkenswerter Stimme. Auf den ersten beiden Stücken suchen vielleicht einige Hörende noch nach einem Alleinstellungsmerkmal, und das wird auf dem dritten Song, „Spud Infinity“, nicht nur geliefert, es wird den Hörenden vielmehr mit Schmackes, aber dennoch lässig und ruhig um die Ohren gehauen. Von Anfang an begleitet die Maultrommel die übrigen Instrumente und Lenker singt eine Melodie, die anscheinend nie irgendwo ankommt und total fasziniert, das hätte tatsächlich Dylan nicht virtuoser hinbekommen, nur dass Lenker virtuoser singt als seine Bobheit, und gegen Ende liefern sich Schlagzeug und Maultrommel dann noch ein kleines Duell, das von der Violine gewonnen wird. Danach muss man erstmal durchatmen, wenn man bis hierher aufmerksam zugehört hat. Und genau darauf ist „Certainty“ ausgelegt, ein wirklich schönes Folk-Stück, das nicht überfordert, außer, man versucht, Lenkers Gesang in seiner Gesamtheit zu erfassen, dann kommt es auch hier zu Momenten von Luftnot und äußerster Bewunderung.
An Position 5 geht das Titelstück an den Start. Lenker singt hier um einiges höher als auf den vorigen Stücken, und mit vorwiegend Akustikgitarre baut sich der Song langsam auf. Um dann auch nicht mehr schneller oder lauter, sondern nur intensiver zu werden.
„Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ ist nicht vor allem, aber zumindest auch: lang. Mit knapp über 80 Minuten Spielzeit – und das, nachdem man vor gerade mal knapp drei Jahren gleich zwei Alben innerhalb eines Jahres vorgelegt hat – sind naturgemäß Längen zu erwarten, aber ich finde, die bleiben aus. Kein Song nervt, das Hörerlebnis bleibt über die ganze Hörzeit konstant auf hohem Niveau. Auf Track 14 („Wake Me Up To Drive“) pluckert (sorry für das abgeschmackte Wort) angenehme Elektronik im Hintergrund und Lenkers nun auf einmal tiefer, eintöniger, aber nicht weniger faszinierender Gesang lullt die Hörenden aufs Angenehmste ein. Kurz vor Schluss, auf Track Nr. 17 von 20, „Simulation Swarm.“, folgt dann nochmal ein Highlight mit höchstem Vorab-Reinhörungswert. Sogar das Highlight des Albums, wie ich finde. Eine Melodie, die einen nicht in Ruhe lässt und wunderschöne Zeilen wie „I wanna drop my arms and take your arms / And walk you to the shore / I’d fly to you tomorrow, I’m not fighting in this war.“
Mit dem anschließenden „Love Love Love“ mit einem leicht verstörenden Text (erst 32 x „Love“, dann auf einmal „Release my love, my love“) setzen Big Thief nochmal einen oben drauf, um sich dann mit zwei weiteren wunderschönen Stücken („The Only Place“, rein akustisch, und „Blue Lightning“, mit stampfendem Country-Beat) zu verabschieden und sehr viel Laune auf weitere Musik von Big Thief zu machen. Also wie gesagt, mein Album des Jahres 2022.