Von Matthias Bosenick (08.10.2018)
So geht das auch: Einfach mal acht Stunden Musik auf einen Schlag als ein Album herausbringen. Kann man machen, wenn man Autechre ist und böse Kritiker ohnehin behaupten, deren als IDM klassifizierte elektronische Fiepsmusik sei willkürlich und simpel. Ist sie natürlich nicht. Die Musik entstand an vier Abenden live im Internetradio und kommt nun nach dem Download auch auf acht CDs oder zwölf LPs heraus. Trotz aller Verschachtelungen überwiegt hier das Entspannende, was es nicht weniger spannend macht. Es als geschlossenes Album aufzufassen, fällt schwer, als Dokument ist es überwältigend und musikalisch so grandios, wie Autechre eben sind.
Seit 30 Jahren machen Sean Booth und Robert Brown unter dem Alias Autechre Musik, die mit der Zeit in Sachen Abstraktion dem Bandnamen folgte. Die vorliegenden Radiosessions nun geben einen perfekten Querschnitt in das Werk des Duos, insbesondere ab dem vierten Album „Chiastic Slide“, mit dem es 1997 den Weg in Richtung Abstraktion vollends einschlug. Ganz so krass wie die 2002er-Single „Gantz Graf“, bei der es schwerfiel, in dem Effektgewitter überhaupt den Rhythmus nachzuvollziehen, wird indes kein Stück auf den „NTS Sessions“. Das Abstrakte behalten Autechre bei, vermeiden aber den akustischen Eindruck von körperlich schmerzendem Verkehrsunfall.
Vielmehr sind die Tracks – als Songs oder Lieder kann man so gut wie nichts von Autechre bezeichnen – mit dem Bewusstsein erfassbar, vom Ohr differenzierbar gestaltet. Vermutlich liegt dies an der Live-Situation, mit der das Duo belegt, dass es, sobald es die Zeit hat, im Studio herumzutüfteln, seine Tracks mit ausgefeilter Komplexität versieht und diese in der Livesituation aufs Mögliche reduziert. Schließlich arbeiten Booth und Brown nicht nur mit digitalen, sondern auch mit analogen Instrumenten, da ist eine Abrufbarkeit auf Knopfdruck etwas weniger umfassend vorbereitbar.
Autechre gelingt es – nicht nur auf diesem Album –, ihrer vermeintlich kalten IDM eine unerwartete Wärme zu verleihen. Das macht die Sounds des Duos menschlich, das nimmt die Maschinerie aus dem Vordergrund, mit dem man diese Art der Musik instinktiv verbindet. Da mögen die Rhythmen noch so verschachtelt sein, das Fiepen und Knarzen noch so artifiziell klingen: Spätestens, sobald Autechre das Tempo reduzieren, erhöht sich die Temperatur. Als schöne Musik darf man sich die von Autechre indes nicht vorstellen: Noch am ehesten kann man deren Herangehensweise mit der des freien Jazz vergleichen, nur eben mit elektronischen Mitteln. Schön ist diese Form der Musik dennoch, sofern man sich dafür zu öffnen in der Bereitschaft sieht. Zum Tanzen im Club wiederum eignet sie sich auch nur bedingt.
Diesem Album liegen vier jeweils zweistündige Sessions bei Internetradiosender NTS zugrunde, die Autechre im April dort absolvierten. Für die CD-Version halbierten sie die eigentlich ineinander übergehenden Sessions und setzten sogar Track-Indizes, die Vinylkäufer finden die vier Sessions sogar auf jeweils drei LPs gestückelt vor. Track-Indizes sind dabei vermutlich so willkürlich gesetzt wie die Titel: Das letzte Stück „all end“ hat den einzigen sprechenden Titel, dauert fast eine Stunde und nimmt die letzte CD komplett ein.
Ein Gewaltmarsch mit Ambientfaktor, dieses Acht-Stunden-Werk. Was jetzt noch fehlt, ist die physische Ausgabe des Vorgängeralbums „elseq 1 – 5“, das gibt es bislang nur als Download und dauert nur fünf Stunden.