Atsuko Chiba – Water, It Feels Like It’s Growing – Mothland 2023

Von Matthias Bosenick (02.02.2023)

Was für eine einnehmend schöne Musik! Atsuko Chiba ist ein Quintett aus Montreal, das auf „Water, It Feels Like It’s Growing“, seinem erst dritten Album in zehn Jahren, einfach mal alles zusammenfügt, was eine psychedelische Wirkung hat: Auf der Grundlage von epischem Postrock ufern die sechs Tracks aus in filigranen Progrock, Wave, Shoegaze, Ambient, hyperaktiven Grooverock, Avantgarde, Noiserock. Was dabei am meisten begeistert, ist die merkwürdige Eingängigkeit, dass sich die Musik auf dem Zettel sperrig liest, dies aber mitnichten ist: Man darf der ohnehin unvollständigen Genreliste gern auch den Pop hinzufügen. Was für ein stählerner Bass! Was für ein angenehm klarer Gesang! Was für überraschend funky Bläser plötzlich! Und was für eine Fähigkeit, das Atonale zu einem harmonisch funkelnden Kleinod zu schleifen!

Die flächig flirrenden Gitarren sind das markante Merkmal des Postrock, das Atsuko Chiba hier unter die Songs legen. Erstellt die Band im Auftakt „Sunbath“ noch einen sich langsam erhebenden lärmigen Soundbrocken, wirft es im zweiten Song „So Much For“ einen unerwarteten Blick in Richtung Madchester und lässt die analog eingetrommelten Breakbeat-Grooves von der Leine. Dazu hebt zunächst ein harmonischer Gesang an, der sich mit dem zusehends in Schräglage geratenden Stück ins Gebell steigert – und trotzdem einen Refrain zulässt, den man als Ohrwurm mit sich herumtragen mag. Und dann das Getröte: Es überrascht zunächst, wenn plötzlich energetische Bläser den Noise-Funk in das zappelige „So Much For“ prügeln, doch lässt man das erstmal wirken, stellt man fest, wie brillant dieser Move ist, wie geil es passt, wie sehr es mitreißt (und wie es leicht an „The National Anthem“ von Radiohead erinnert).

Für alle Songs gilt, das Atsuko Chiba vom Intro bis zum Outro die Strukturen erweitern, Elemente austauschen, Intensitäten variieren, ihren Lärm differenziert anordnen, sie also permanent im Wandel halten, die Hörenden mithin mit Unerwartetem überraschen, das sie – und das ist die große Kunst – schlüssig ineinanderweben. Das gilt für die genannten Bläser wie für viele weitere Momente auf dem Album: Auch das erst quietschig anmutende Keyboard in „Link“ etwa verwirrt im ersten Moment, doch macht es den Track zum repetetiv groovenden Monster. Und dann können Atsuko Chiba auch anders, chillig, relaxt, in „Seed“ etwa so betäubt wie „Comfortably Numb“ von Pink Floyd.

Aus fünf Leuten besteht Atsuko Chiba: Schlagzeuger Anthony Piazza, Sänger und Bassist David Palumbo, Gitarrist und Keyboarder Eric Schafhauser, Sänger und Gitarrist Karim Lakhdar sowie Gitarrist und Keyboarder Kevin McDonald. Ob das auch für die früheren Alben „Jinn“ (2013) und „Trace“ (2019) sowie die EPs „Figure And Ground“ und „The Memory Empire“ (beide 2016) und die zahlreichen weiteren digitalen Veröffentlichungen ab 2012 gilt, lässt die Band offen. Für „Water, It Feels Like It’s Growing“ erweiterten Atsuko Chiba ihr ohnehin meistens aufgestocktes Personal zusätzlich erheblich, um Gesang sowie Streich- und Blasinstrumente, die einerseits das Flächige, andererseits das Wuchtige zu betonen helfen. Was es bei Atsuko Chiba indes nicht gibt, ist Metal, auch wenn es mal rockt, was auf älteren Veröffentlichungen noch eher geschieht als auf der neuesten; auch die früher schon mal auftretenden Siebziger-Prog-Keyboardsounds fehlen hier endlich.

Den Bandnamen borgten sich die Leute aus Montreal übrigens in Japan aus: Doktor Atsuko Chiba ist die Hauptfigur in Yasutaka Tsutsuis 1993er-Roman „Paprika“, gleichzeitig der Codename für die Wissenschaftlerin, die mittels einer Erfindung in Traumwelten eindringen kann. Satoshi Kon machte aus dem Stoff 2006 einen Anime. Und fünf Kanadier 2012 eine Band.