Anohni And The Johnsons – My Back Was A Bridge For You To Cross – Rough Trade 2023

Von Guido Dörheide (19.07.2023)

Alleine der Titel des Albums ist ja schon mal klasse und erinnert an den Ausspruch von Herbie Hancock, nachdem Joe Zawinul die Brücke in die Zukunft war, über die Miles Davis [mit „In A Silent Way“, Anm. d. V. d. Z.] gegangen ist.

Über welche Brücke geht Anohni mit ihrem neuen Album? Bzw. über welche Brücke ist Anohni noch nicht gegangen? Heuer revitalisiert sie den Bandnamen, den sie früher, damals noch unter ihrem Geburtsnamen Antony Hegarty, bereits als „Antony And The Johnsons“ gebrauchte, und das „Johnson“ bezieht sich dabei auf Marsha P. Johnson, die als New Yorker Drag Queen und Transgender-Aktivistin seit den späten 60er Jahren bis zu ihrem Tod aus ungeklärter Ursache 1992 von sich reden machte und bis heute relevant ist und die auch auf dem Cover von „My Back Was A Bridge For You To Cross“ abgebildet ist.

Ich bin auf Anohni aufmerksam geworden als unbelehrbarer Lou-Reed-Fan, der auch die späten Live-Veröffentlichungen sehr genossen hat und sich immer fragte „Wer singt die Parts von Nico, wenn Lou Reed live mal was vom ersten VU-Album spielt?“ Und ich hörte mir eines dieser Alben an und stellte fest, dass Reed jemanden gefunden hatte, der das konnte und auch tat: Antony Hegarty.

Somit steht für mich bei jeder neuen Anohni-Veröffentlichung die Stimme im Vordergrund, die einzigartig ist, voller Soul, voller Wärme, voller Tiefe und irgendwie einzigartig und unkopierbar. Und so ist es auch hier wieder.

Und die Musik? Nun, nach dem 2016er Album „Hopelessness“ ist „My Back Was A Bridge For You To Cross“ vermutlich erstmal ein ziemlicher Schock: „Hopelessness“ enthielt ebenso Anohnis unverwechselbare Stimme, wie es das neue Album tut, allerdings unterlegt durch elektronische, avantgardistisch-dystopische Musik. „My Back Was A Bridge For You To Cross“ stellt demgegenüber eine 180prozentige Kehrtwende dar:

Die Musik auf dem Album ist wunderschöner Soul und wird nicht umsonst mit Marvin Gayes „What‘s Going On“ verglichen. Und zu dieser Musik passen Anohnis Stimme und Vortrag ebenso – wenn nicht sogar besser – als zu den eher experimentellen Klängen auf „Hopelessness“. Nicht falsch verstehen: Wer „Hopelessness“ noch nicht besitzt, sollte jetzt die Gelegenheit nutzen und dieses Jahrhundertwerk seiner Plattensammlung einverleiben.

Wir fassen zusammen: Es geht um queere Identität, die Stimme der Vortragenden ist einzigartig, einen Vergleich mit Nico habe ich auch gebracht, die Musik irgendwie popgeschichtlich eingeordnet und das Vorgängeralbum den Hörenden auf das Herzlichste anempfohlen – wenden wir uns also nunmehr den Texten zu:

Mit „It Must Change“ beginnt das Album sehr dunkel: „The death inside you / That you pass into me / The truth is that I always / Thought you were beautiful / In your own way“. Und es geht noch dunkler weiter in diesem Song mit „You know how they always said that light was the opposite of darkness? It’s just fire and darkness“, und dann werden diese Gegensätzlichkeiten komplett infrage gestellt. Im nächsten Song, „Go Ahead“, wird es dann gegenständlicher: „You are determined to take me down / I don’t stop you, I won’t stop you / Go ahead and burn it down / Go ahead, kill your friends / You are an addict / Go ahead, hate yourself / I can’t stop you.“ Heftig, oder? Und es wird nicht fröhlicher, wie „Sliver Of Ice“ zeigt. Vibrierende Gitarrenakkorde untermalen Zeilen wie „Now that I’m almost gone / The sliver of ice on my tongue / In the day’s night / It tastes so good, it felt so right / For the first time in my life.“ Uuuuh. Und das singt hier jetzt nicht irgendein 17Jähriger, der in der Oberstufe zu viel „Werther“ gelesen hat. Anohni ist anderthalb Jahre älter als ich.

„Can‘t“ ist ein knapp fünfminütiger Klagegesang über den Verlust eines geliebten Freundes, der nun nicht mehr da ist, ich überlege kurz, ob es sich dabei um Lou Reed handeln könnte, Erinnerungen an dessen 1992er Album „Magic And Loss“, eine herzzerreißende Ode an kürzlich verstorbene Freunde und Reeds bestes Album, kommen mir in den Sinn. Mit „I don’t want you to be dead / I won’t have it, I won’t have it / Can’t reverse it, I won’t have it / Can’t undo it, can’t reverse it / I won’t have it, I won’t have it“ endet der Song. Und danach wird das Album sicherlich fröhlicher. Wird es? Wird es doch, oder? Nein, wird es nicht. Den Text von „Scapegoat“ anempfehle ich hiermit den Hörenden, ihn nachzulesen. Wer dabei nicht weint, bekommt von mir eine Dose Heineken zugeschickt. Egal wohin.

In „It‘s My Fault“ beschäftigt sich Anohni mit etwas, was sie nicht getan hat (was ich ihr auch glaube), wofür sie aber trotzdem die Verantwortung übernimmt. Ein Schelm, der dabei denkt, dass ihr das wohl von jemand anderem eingeflüstert wurde. Können wir uns gerne mal lange drüber unterhalten. Um jetzt hier nicht endgültig rammdösig zu werden ob so viel Schmerzes, skippe ich mal einige Tracks weg. „Rest“ und „There Wasn‘t Enough“ schmerzen sehr und verbrennen beim Zuhören viele Kalorien, aber das darauf folgende „Why Am I Alive Now?“ toppt das noch und kommt an den ungarischen Selbstmordsong („Gloomy Sunday“) recht nah heran. Oh Schmerz. Ja, Schmerz. Oh. Dazu gibt es Loureedmäßige Gitarrenakkorde, oh Hammer, Anohni haut so eine schmerzhafte Schmerzorgie voller Schmerz raus, ohne dass es kitschig wird. Und wer dann denkt, am Ende des Albums werde es bei „You Be Free“ bestimmt nochmal fröhlicher, dem entgegne ich mit einem entschiedenen: „Nein! Wird es nicht!“