Von Matthias Bosenick (22.05.2025)
Endlich wieder Mucke von jungen Leuten, die keinen Bock auf Grenzen, Trends oder Anpassung haben! Das paneuropäische Quartett aus drei bis fünf Beteiligten mit dem bedauerlicherweise mehrmals vergebenen Namen Mauvais Sang kombiniert auf seinem zweiten Album „La Faune“ Sounds und Genres miteinander, die nicht zusammengehören, aber bestens zusammenpassen, und decken damit zwischen tanzbar in die Fresse und chillig auf der Psychocouch eine beeindruckende Skala an Genres und Emotionen ab. Merkwürdig ist lediglich, dass die vorausgegangene „La Flore EP“ zu drei Vierteln enthalten ist – ganz oder gar nicht, oder? Ändert aber nix daran, dass „La Faune“ mächtig geil geraten ist.
Die integrieren ernsthaft eine Harfe in ihren Sound. Egal, ob es sich um Dancefloor-Tracks, Electroclash, Noiserock oder kontemplative Ballade handelt. Was auch immer die Band hier an Effekten einsetzt, es knallt. Selbst die Harfe. Jeder Electroeinsatz sitzt, die Gitarre bratzt, das Schlagzeug drischt und treibt, wo nicht die Drumcomputerbeats übernehmen, die Samples fügen sich ein, der Gesang – oft mehrstimmig, trocken, bisweilen nah am Sprechen – wirkt, als sei er die Hände, die die Mucke drumherum jonglieren. Hier dringt Energie aus den Poren, die umso wirkungsvoller ballert, sobald die Intensität mal zurückfährt; das erfolgt sowohl innerhalb des Albums als auch in ausgewählten Fällen innerhalb einzelner Songs, etwa dem bereits bekannten Kracher „Modèle“. Insbesondere jener verdeutlicht am intensivsten die Spannung zwischen stiller Einkehr und lärmendem Punch. Und ist dabei auch noch eine Aufforderung zum intensiven Abzappeln.
So sind aber nicht alle Songs, in der Regel legen sich die Musizierenden auf eine Ausrichtung fest, die sie immer noch ausreichend variieren. Oder es eben sinnstiftend unterlassen, wie in dem Filmscore-Chanson „Dernier Acte“ mit der schrägen Spieluhr in der Mitte oder der Harfenballade „Nouvelle Ère“, die gegen Ende einige verstörende Glitches verpasst bekommt; also doch nicht ganz ohne Abweichungen. Aber das ist typisch, die Schönheit und das Verstörende kombinieren Mauvais Sang sehr gern, und es gelingt ihnen bewundernswert überzeugend. Man möchte abtauchen in diesen stillen Lärm. Diese Vorgehensweise fordert die Hörerschaft zudem dazu auf, sich die Songs vollständig anzuhören, sie nicht etwa bereits nach 30 Sekunden zu skippen, denn hier passiert stets und immer etwas Unerwartetes.
Etwa in „Là-bas le Monde“: Es beginnt als Noisebrocken, ein Stück sludgiger Lärm, ebbt ab und gibt Harfe, Chören und Ambient-Synthies den Raum zur Entfaltung. Das passiert so spannungsgeladen, dass man nicht wahrnimmt, dass dieser instrumentale Track sechs Minuten lang ist. Oder „Sur la Plage“, das in seine zweistimmig vorgetragene verträumte Ballade zur Harfenbegleitung einen extrem aggressiven Industrial-Techno einbaut. Das Finale „Loin“ ist dann die Krönung dieser Körung: zehn Minuten lang, zunächst Indierock, nah am Wave, mit ständig wechselnder Ausrichtung. Der Gesang bleibt, das Drumherum nicht, aus den Gitarren werden Streicher, aus dem Rocksong wird ein Synthietrack, allein der Gesang bleibt gleich beiläufig. In der Mitte verschwindet der Beat, das Stück senkt sich schräg-beklemmend ab und nimmt doch nur wieder Anlauf, schraubt sich behutsam majestätisch in die Höhe, dreht vorsichtig am Tempo und an der Schräglage der Sounds und wirft die Hörerschaft aus höchsten Höhen ins Ungewisse, Leere ab.
Merkwürdig ist es aber schon, dass diesem Album eine EP voranging, die mit dem Titel „La Flore“ den Eindruck erweckt, ein Gegenstück zu diesem „La Faune“ zu sein, in Wahrheit aber lediglich einen Song mehr zu bieten hat, der nicht auf dem Album zu finden ist. Dieser „Seine“ ist dann auch noch so extrem geil, dass sich der Erwerb der EP wahrhaftig lohnt. Doch hätte man sich als Käufer der EP gefreut, wären die vier Stücke exklusiv geblieben. Dafür bekommt der Kunde der Download-Variante von „La Faune“ den Zehnminutenkracher „Loin“ als dreiminütige Radioversion hintendran. Der einzige Wermutstropfen in einem extremst wohlschmeckenden und garantiert in den Schädel ballernden Cocktail.
Ach so, wegen paneuropäisch und der Anzahl der Muszierenden: Das Projekt Mauvais Sang hat seine Zentrale in Paris, die Beteiligten sitzen aber auch in London, Genf und sonstwo in Europa. 2016 startete die Band, benannt nach dem Originaltitel des Films „Die Nacht ist jung“ von Leos Carax aus dem Jahr 1986, offenbar als Trio, spielte 2022 das Debütalbum „Décor“ als Sextett ein, ist auf dem Promofoto bei Bandcamp als Quintett zu sehen und listet für „La Faune“ nur noch vier Musizierende auf, nämlich Mathis Saunier, Léo Simond, Anouck Bizon und Alicja Cetnar.