Von Matthias Bosenick (29.04.2025)
Erst im Januar veröffentlichte das Berliner Electro-Experimental-Kollektiv Reichenhall sein jüngstes Album, jetzt gibt es mit „Kollektion Eins“ eine Schaffensübersicht – mit neun Tracks aus satten zwölf Veröffentlichungen in kaum drei Jahren. Nicht nur die unterschiedlichen Besetzungen der Aufnahmen ergeben ein ausnehmend diverses Soundbild, die Beteiligten selbst lassen sich ohnehin nicht auf irgendwas festlegen. Von Ambient bis Techno ist erstmal alles dabei, und alles davon sprühend vor jazziger Experimentierfreude. So richtig irgendwelchen gewöhnlichen Strukturen und Sounds folgt das Projekt nämlich nicht, sondern fordert die Hörenden auch im Ruhemodus noch heraus.
Es ist ratsam, etwas über die Entstehung dieses Projektes zu wissen: Eines Tages begann Lukas „Radiomodul“ Schmolzi in seiner Eigenschaft als DJ damit, Soundschnipsel von Bernhard Wöstheinrichs diversen Projekten zu schreddern und ihnen einen Rhythmus zu verordnen. Die Ergebnisse gefielen den beiden, die somit das „Kombinat für recycelte elektronische Musik“ aus der Taufe hoben. Und das Projekt Reichenhall gleich mit, deshalb entstand dessen Debüt „Hunt & Lore“ aus dem Juli 2022 auch noch in Zweierkonstellation. Die beiden zusätzlichen Mitstreiter Mathieu Sylvestre und Volker Lankow kamen erst nach und nach hinzu und ergänzten das Portfolio um Loops, Soundscapes und Echtzeit-Soundtransformationen, wie die Info verrät.
Damit sind die Eckpunkte von „Kollektion Eins“ schon mal grob abgesteckt. Und so beginnt diese Sammlung auch mit „Wasserrad“ als Ambient, mit Drones, percussiven Drums ohne den Kickbeat, somit als chilliger, aber herausfordernder Einstieg. Im „Muschelkalk“ hört man synthetische Drumsounds, wie man sie von den ersten Tracks von Front Line Assembly kennt. Der Track bleibt im Downbeat und beinhaltet viele Spielereien, die das Chillen erschweren. Spätestens hier wird überdies offenbar, dass Reichenhall nicht auf Melodien ausgelegt sind.
Die ersten fetten Beats bekommt man in „Asteroids Over Westberlin“ auf die Ohren, kombiniert mit einer Snare aus dem Minimal-Electro. Sobald man sich schön in den Techno eingrooven will, wird aus dem Stück jedoch eine Gemengelage aus Sounds, Effekten und Ambient-Modulationen. Eher arhythmisch mit EBM-Industrial-artigen Drumsounds und eher jazzig-improvisierten pianoartigen Melodien gerät „Orbethanien“. „Propane & Champagne“ wiederum erscheint zunächst als munterer Jazz mit Blasinstrumenten zu downen Beats, wird dann zu einem Stück Trance und kehrt zum Beginn zurück. Abermals eher undurchdringlich ist der langsame, komplexe Rhythmus von „Kaleido“, das mit Drones und chilligen Café-del-Mar-Klimpereien eine unterschwellige Nervosität ausstrahlt.
Ebenfalls eine Transformation erfährt „Euphotic Zone“, das mit beatlosen Ambient-Soundscapes loslegt, dann Beats und konkretere Formen integriert und diese alsbald komplett zerlegt. Die „Raupenbahn“ verläuft auf einem Minimal-Downbeat mit knarzigem Synthie und Störsounds. Ohne Musik startet „Bergverwandte“, nämlich mit Sprachsamples und Soundscapes als eine Art Collage, die aber noch einen Rhythmus entwickelt und die Hörerschaft angenehm aus diesem Exkurs herausbegleitet.
Reichenhall stehen also nicht einfach für Noise, für Shreds, für Techno, für Ambient – es ist alles davon darin und nichts davon nach gewöhnlichen Maßstäben. Da das Projekt viele Tracks live einspielte, kommen auch immer jazzartige Improvisationen dazu, Unvorhergesehenes, ungeplant Experimentelles und damit umso mehr Eigenständigkeit. Der Titel dieser Zusammenstellung lässt überdies erwarten, dass ihm Fortsetzungen folgen werden – man darf gespannt sein, was eher herauskommt: 384 neue Alben oder „Kollektion Zwei“.
Die Tracklist:
01 Wasserrad (Edit, von „Perpetuum Polygon“, Mai 2023)
02 Muschelkalk (Edit, von „Muschelkalk“, Dezember 2022)
03 Asteroids Over Westberlin (Edit, von „Mäusebunker“, August 2024)
04 Orbethanien (von „Café Morgenstern“, März 2024)
05 Propane & Champagne (Edit, von „Propane & Champagne“, Juli 2023)
06 Kaleido (Edit, von „Spiegelmacher“, Januar 2025)
07 Euphotic Zone (Edit, von „Muschelkalk“, Dezember 2022)
08 Raupenbahn (von „Propane & Champagne“, Juli 2023)
09 Bergverwandte (von „Hunt & Lore“, Juli 2022)