Was meine Freundin gerne liest – die Literaturkolumne: The World According to meine Freundin

Von Onkel Rosebud

Meine Freundin hat, bevor sie ein neues Buch anfängt, die Angewohnheit, zuerst den letzten Satz zu lesen. Sie ist der Meinung, dass erste Sätze bestenfalls in die Geschichte verführen, aber generell überschätzt werden, weil man den zweiten sowieso auch liest. Die Kunst einer Schriftstellerei besteht darin, mit Anstand einen Abgang aus einem Text zu machen. Ein wirklich gutes Buch kann nicht einfach so irgendwie aufhören. Mit dem letzten Satz wird der Erzählung die Seele eingehaucht. Ich habe mich zwar daran gewöhnt, finde es allerdings nach wie vor irritierend und frage sie dann immer, warum sie sich spoilert? Meine Freundin antwortet, dass mein Einwand Quatsch sei, weil die wesentliche Handlungselemente unmöglich in einem letzten Satz zusammenfasst werden können und weder Genuss am vollständigen Werk oder Spannung verderben. Ich lasse die Widerworte dazu stecken und stelle mir vor, wie gern sie, wenn sie „Mehr kann darüber nicht gesagt werden.“ liest, 1386 Seiten nach hinten blättert, um J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ zu starten.

Diese Vorgehensweise hat aber auch ihr Gutes. Zum Beispiel wäre mir als Jungspund die „Winnetou“-Reihe erspart geblieben, wenn ich „Ich frage: Ist das nicht interessant?“, am Ende des 4. Teils, zuerst gelesen hätte. Es gibt aber auch letzte Worte in Büchern, die gewaltiger als der Rest davon sind. Von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ läuft mit „…und es war alles, alles gut“ über die Zielgerade. Noch genialer: „So lebte er hin.“ So lautet einer der gefährlichsten Schlusssätze der Weltliteratur – in Georg Büchners Erzählung „Lenz“.

Neulich habe ich herausgefunden, woher meine Freundin diese Angewohnheit hat. Der von ihr verehrte John Irving (Jahrgang 1942) beginnt seine Werke mit dem Schreiben des letzten Satzes. Er hat zwischen 1968 und 2023 15 tragikomische Romane geschrieben, in denen gesellschaftliche Außenseiter mit oftmals ausschweifendem Sexualleben im Mittelpunkt stehen. So auch in ihrem Lieblingsbuch von ihr, „Garp und wie er die Welt sah“. Die Welt des Protagonisten bevölkern Transsexuelle, Fanatiker, Prostituierte und Kriminelle. Doch ist ihnen allen eine Menschlichkeit gemeinsam, die einen Toleranz im Denken nahezu aufzwingt.

Ich arbeite auch an einem Roman. Damit ich meine Freundin dazu kriege, mir ihre Meinung dazu kundzutun, habe ich mir folgenden Schlußsatz ausgedacht: Während sie auf die Häuser zuschritten, fing es an zu schneien, leicht und in feinen Flocken, wie Mehl, das aus einem großen Sieb auf sie niederfiel. Wird sie mein Manuskript lesen? John Irving würde sagen „Nur Dummköpfe wissen auf alle Fragen eine Antwort.“

Onkel Rosebud