Von Guido Dörheide (02.02.2025)
Als ich vor einigen Jahren anfing, mich für Austropop zu interessieren, habe ich um Rainhard Fendrich erstmal einen Bogen gemacht. Zu sehr verfolgte mich „Macho Macho“ aus meiner Kindheit, ein Lied, das ich nicht mochte, weil ich mich von der albernen Musik ablenken ließ und auf den wirklich guten Text nie geachtet habe. Außerdem hat er „Herzblatt“ moderiert, was ich mir zwar nie angesehen habe (außer davor mit Rudi Carrell), ihn aber für mich als ernstzunehmenden Künstler warum auch immer disqualifizierte. Jahre später hörte ich „Strada del Sole“ und war begeistert („I hob kane Lire – und kane Papiere“) und musste danach feststellen, dass auch „Es lebe der Sport“ kein albernes Herumgeblödel war, wie ich bis dahin annahm (ich war tatsächlich bisweilen ein sehr ignorantes und voreingenommenes Kind, vielleicht lag das an der CDU-Verehrung eines meiner Erziehungsberechtigten), sondern ernsthafte Satire, und mit „Weusd a Herz hast wia a Bergwerk“ und „I Am From Austria“ („Sag ma wer ziagt no den Huat vur dia – Außer mir?“) sowie als Teil von „Austria 3“ hat mich Rainhard Fendrich endgültig überzeugt. Nach ca. fünfzehn Jahren ausgiebigen Koksens ist er seit irgendwann in den Nullerjahren nun glücklicherweise clean und bringt weiterhin alle paar Jahre ein gutes Album nach dem anderen heraus. So auch heuer, wo es auf „Wimpernschlag“ rund 50 Minuten neue Fendrich-Musik, verteilt auf 16 Songs, zu hören gibt.
Mit „Wir sind am Leben“ beginnt das Album mit dem Pop im Austropop. Fendrich singt hochdeutsch, der Text verströmt Positivität und ist gut, aber nicht überragend, und nach dem ersten „Wir sind am Lebääääääääääääääääääääääähn“-Refrain bricht sich elektronisches Popgeplucker Bahn, das mich zuerst nervte, ab dem dritten Durchhören aber durchaus begeisterte, zumal Fendrich teilweise sehr energisch singt und seine Stimme wunderbar einsetzt.
Auf „Wake Up Call“ wechselt Fendrich vom Hochdeutsch zum Wiener Schmäh, und genau den wollen die Hörenden ja nun mal von ihm hören. Und in der Mundart kommt seine Stimme, die mit knapp 70 Jahren ein wenig rauher klingt als früher, aber immer noch den typischen jungenhaften Charme und Schalk enthält, nochmal besser zur Geltung. Außerdem lassen sich Gefühle und Erlebtes auf Wienerisch nun mal besser ausdrücken als in mundartfreiem Niedersächsisch („Wenn i vü unterwegs bin, dann schlaf i meistens schlecht. I find mi in Hotelzimmern im Dunkeln nie zurecht. Ma tramt oft vü schlimme Sochn und fühlt si wia a Kind, wenn man in da Finsternis den Schalter nimmer find“, das klingt doch toll, oder?). In dem Song geht es um die Zerstörung der Umwelt, vor der der „Wake Up Call“ den Schlafenden warnen will, der am Ende die Bedeutung von „There is no Planet B“ treffend mit „des hast sovü wie unser Wöd, die gibt’s net no amoi“ beschreibt.
In „Hoit mi“ geht es um das Alleinsein und die große Liebe, sehr schön, sehr ruhig und mit Klavier instrumentiert. Dann machen eine sanfte Gitarre und ein auffälliges, aber sparsam eingesetztes Keyboard neugierig auf „Warteschleife“. Ein hübsches kleines Stück über die Entnervtheit eines in der Warteschleife Befindlichen, der irgendwann in die Fettbemme beißt und genau in dem Moment glaubt, aus der Warteschleife entlassen und in die Obhut eines kompetenten Ansprechpartners übergeben zu sein (man kann sich lebhaft vorstellen, wie der Anrufer hastig vü zvü Essen herunterschluckt, um den Mund wieder frei zum Reden zu haben), nur damit dann die schreckliche Warteschleifenmusik weitergeht. Eine Situation, die jede und jeder kennt, charmant dargestellt.
In „Nachtzug nach Jesolo“ reist der Protagonist auf der Suche nach dem Gefühl aus den 80er Jahren an die Adria und ist ernüchtert, was er zu relaxter und schöner Musik, die mich an den späten Wolfgang Niedecken erinnert, vorträgt. Überhaupt Niedecken: Ein wenig hauen er und der aktuelle Fendrich in dieselbe Kerbe, beide haben viel zu sagen und tun das zu unaufgeregter, nicht spektakulärer, aber sehr schöner Musik.
In „Glaub net alles“ wird Fendrich dann politisch, und trifft auch hier den richtigen Ton: „Glaub net alles, was a guter Freund erzöht, Glaub net jedem, der im Wirtshaus gröhlt. Glaub net immer ois, was in der Zeitung steht, was dei Herz sagt, is des Anzige, was zöht.“ klingt hier nicht nach „Lügenpresse“-Gedröhne, sondern nach einer Aufforderung, nicht nachzuplappern, sondern erstmal nachzudenken. Mit Sätzen wie „die Follower werden nicht entrinnen dem Heer der Influencerinnen“ kriegt auch der unselige Trend, sich mit politischen Informationen nicht mehr von Journalist:innen, sondern von Sozialmedienpersönlichkeiten bevorraten zu lassen, sein Fett weg.
Hernach ist dann etwas Zeit für Kitsch und Rührseligkeit: „Das klane Glück“ handelt davon, dass im Mercedes oft mehr geweint wird als in der U-Bahn und in der Kneipe mehr gelacht als beim Sternekoch; kurz: Das kleine Glück sollte man sich bewahren, das Streben nach immer mehr macht nicht glücklich. Recht hat er, der Rainhard, und um solche Weisheiten auf den Punkt zu bringen, dafür ist sein Vortrag mehr als gemacht.
Rührselig geht es weiter mit „Nie wieder jung sein“. Schon der Titel erinnert an Hannes Wader, der Ähnliches mit den unglaublichen Worten „Schön ist die Jugend, so sorglos und frei, gottseidank ist sie endlich vorbei und sie kehrt zum Glück niemals zurück“ besang, damals in den ganz frühen 90ern. Und in der Tat ist Fendrichs Ansatz derselbe: Ka Radl, ka Madl, nix zum sogn, da waren sie wieder, seine drei Probleme. Das Erwachsenwerden bringt die Freiheit von „all den“ Zwängen, von Schwäche und Blödheit – klingt albern und utopisch? Nein, eher wie eine Aufforderung, etwas aus seinem Leben zu machen.
Auf „Und das Herz schlägt weiter“ verfällt der Künstler dann wieder ins Hochdeutsche und besingt den Schmerz einer verlorenen Liebe und trotz allen Pathosses gibt es auch hier viele schöne Formulierungen zu entdecken wie zum Beispiel „Kann es Fluch oder verdammter Zufall sein? Den Rest des Weges gehe ich allein“, die sich Fendrich wie immer selbst ausgedacht hat.
Auch „Übers Meer“ wird – vermutlich um sicherzustellen, dass der Text auch verstanden wird – in Hochdeutsch gesungen. Zu spannungsgeladener Synthesizermusik singt Fendrich über Menschen, die übers Meer aus der Heimat, die es nicht mehr gibt, flüchten und dabei den Tod in Kauf nehmen, um nicht in die Hölle zurück zu müssen. Auch hier wieder viel Pathos, aber Fendrich bringt das Thema treffend auf den Punkt und macht seine Haltung gegenüber dem derzeit grassierenden menschenverachtenden Remigrationsforderungsirrsinn deutlich.
Das tut er ebenso mit „Die Kinder des Krieges“, die kein Glück kennen, sondern nur Angst und Verzweiflung, die die Verantwortlichen irgendwann zurückbekommen werden. Es ist schon viel über die Schrecken des Krieges gesungen worden, und Fendrich findet hier eine eigene, sehr eindringliche Art und Weise, sich mit diesem wichtigen und leider immer aktuellen Thema auseinanderzusetzen. Weiter geht es ernst und weiterhin dialektfrei: Der Titelsong des Albums beschäftigt sich damit, wie schnell das Leben vorangeht, und mit Zeilen wie „ich bin hochgeflogen, wähnte mich dem Himmel nah, hab mich gern belogen, wenn die Wahrheit schmerzhaft war“ rechnet Rainhard Fendrich auch mit den oben erwähnten 15 Jahren ab und ruft auch hier unausgesprochen dazu auf, etwas zu machen aus der Zeit, die einem zur Verfügung steht.
Anschließend kehrt Fendrich mit „Nebenan“ ins Wienerische zurück und beschreibt die Menschen, die nebenan wohnen: ein einsamer alter Mann, den niemand riechen kann, ein ewiger Student, der keine Partnerin findet, ein frischvermähltes Paar, „das nur kurz im Märchen war“ und jetzt „hört man Schreie durch die Wand und dann trägt sie an Verband“. Fendrich ruft dazu auf, nicht nur auf sich, sondern auch auf andere in seinem Umfeld zu achten, und das macht er sehr unaufgeregt und sehr gut. Ebenso tut er das auf „Schöne Aug’n“: Diese werden zunächst als Geschenk besungen, das einem Tür und Tor öffnet, im Laufe des Songs wird dieses Schöne-Augen-Phänomen dann auf Politiker:innen angewandt, die einen gewinnenden Blick einsetzen, um Sympathien zu gewinnen, obwohl man „keine Planung hat, ka Ahnung hat und zum Schluss sagt ‚Tut ma lad‘“. Sebastian Kurz hat hier Pate gestanden, denke ich mir.
Anschließend holt Fendrich nochmal die bitterböse Humorkeule raus und fordert zu russisch angehauchtem Schifferklavier einen „Wladimir“ dazu auf, sich zu ihm zu setzen, einen Wodka oder zwei zu trinken und sich nicht so anzustellen. Dann wird der Werdegang dieses Wladimir skizziert, erst klein und einsam, dann Karriere beim KGB, anschließend „erst nackig durch die Taiga und dann voll im Größenwahn“, mit viel Macht ausgestattet wird er zum neuen Zaren. Wladimir hat dann auch die allgemeine Vorstellung von den Russen komplett zugrunde gerichtet, was Fendrich mit den Worten „Der Russe ist gemütlich, der Russe war beliebt, war immer gern geseh’n, wenn’s was zu feiern gibt. Doch wer denkt noch an Frohsinn, wenn es um Russland geht? Der Ivan Rebroff hat sich schon im Grab gedreht“ auf den Punkt. Dann mutmaßt der Erzähler, in Wladimirs Brust schlüge sicher irgendwo ein Herz, und besinnt sich dann doch noch mit den Worten „Hahahaha, das war ein Scherz“ eines Besseren. Fendrich zeigt hier, wie man sich über Despoten lustig machen kann, ohne sie zu verharmlosen.
Im letzten Song „Nie mehr Krieg“ holt Fendrich dann nochmal ganz weit aus und stellt sich vor, dass alle Soldat:innen desertierten, alle Befehle ignorierten, nach Hause gingen und die Despoten mit ihrem Scheiß alleine ließen: Dann nämlich gäbe es nie mehr Krieg. Und das klingt hier nicht naiv oder dümmlich, sondern sehr eindringlich und simpel und verständlich auf den Punkt gebracht. Ein schöner, würdiger Abschluss für dieses Album.
Abschließend noch ein Wort zum Albumcover: Es erinnert mich an „Barbed Wire Kisses“ von The Jesus And Mary Chain, weil an jeder Seite ein halbes Gesicht zu sehen ist. Im vorliegenden Fall sehen die Betrachtenden an der linken Seite die Hälfte des aktuellen Rainhard Fendrich und an der rechten die Hälfte eines Porträts des Künstlers als junger Mann. Während der junge Rainhard zwar ernst, aber nicht hoffnungslos dreinschaut, hat der alte Rainhard die Stirn voller Sorgenfalten und presst die Lippen fest zusammen. Dennoch ist „Wimpernschlag“ kein resigniertes oder negatives Album geworden, sondern ein nachdenkliches und ein sehr gutes, mutmachendes.