Von Matthias Bosenick (11.11.2024)
Hier treffen zwei Tiefschürfer-Instanzen aufeinander: Als akustisches Kompendium zu seinem Buch „Heavy Kraut – Wie der Metal nach Deutschland kam“ (Verlag Andreas Reiffer) stellt Stromgitarrenmusik-Experte Frank Schäfer die mittlerweile zweite Sammlung mit Hörbeispielen zusammen, dargeboten auf dem Label Bear Family, das seinerseits nur zu gern Obskuritäten zutagefördert. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Entwicklung vom Kraut- zum Hard Rock und somit zum Heavy Metal, dieses Mal als Anschluss an die erste Ausgabe (1970 bis 1976) chronologisch von 1977 bis 1983 aufgereiht und sowohl den Westen als auch ein Bisschen den Osten abdeckend. Von viel zu vielen Bands hat man noch nie gehört und man staunt, wie eng so ein als weit aufgefasster eigener Horizont doch sein kann. Vortrefflich gebuddelt, Frank!
Natürlich ist von Heavy Metal hier auf weiten Strecken noch gar keine Rede, so allmählich aufs Maul gaben die Bands erst nach dem Jahrzehntwechsel. Was der informativen Zeitreise keinen Schaden zufügt. Das mit dem Kraut-Bezug steckt man auch eher schulterzuckend weg, es ist eben ein Etikett, das der deutschen Rockmusik anhaftet, und Schäfer begleitet deutsche Musizierende dabei, wie sie aus diesem Klammergriff heraustreten. Einige der hier aufgeführten Bands blieben nachhaltig auch international im kollektiven Gedächtnis hängen, andere kamen über den Status Geheimtipp kaum hinaus, umso schöner, dass man sie hier neu entdecken kann.
So eine Orgel wie in dem Krautfunk „Comin‘ Together“ von Fargo eröffnet diese zwei Geschichtsstunden sehr einnehmend, auch in „Live“ greifen Bullfrog auf ein solches Instrument zurück. In „Lost Son“ gniedeln sich Elfenbein spacerockend davon. Mit Prinzip und „Sieben Meter Seidenband“ ist die erste DDR-Band vertreten, zudem der erste deutschsprachige Song, und wer auch immer glaubte, dass man ein West-Ost-Gefälle in jedweder kulturellen Darbietung wahrnehmen könne, wird hier Lügen gestraft – nicht nur, dass der Song amtlich rockt und komplex strukturiert ist, es gab im Westen ja hinreichend Peinlichkeiten. Witthüser & Westrup sind hier gottlob nicht enthalten. Berluc, ebenfalls aus der DDR, schwingen mit „Hallo Erde, hier ist Alpha“ die Boogie-Gitarren. „Back To The Nature“ von Bastard erschien in der Liveversion erst jüngst als Wiederveröffentlichung bei Sireena. Mit Krokus und deren „Fire“ ist auch die Schweiz vertreten, in „Steven“ lassen Requiem die Keyboards dudeln.
Die zweite CD eröffnen Electric Sun mit „Fire Wind“ und harmonischen Twin-Gitarren, eine davon gespielt von Uli Jon Roth. Denkt man noch, „Victims Of Rock“ von Rampage sei der peinlichste Titel, auch in der Eiertreter-Gesangsdarbietung, sollte man etwas Geduld haben: Der „Pyro-Manni (Feueralarm!)“ von Bauer, Garn & Dyke folgt noch. Zwischendurch riffrocken Accept wie in Australien gelernt, „Cold Hearted Woman“ von Bullet fügt sich in jedes Ich-kann’s-nicht-mehr-hören-Classic-Rock-Programm ein. Mit der „Spinne“ von Breslau ist dann erstmals eine Frau am Mikro zu hören. Den „High Speed Lover“ von Straight Shooter gab‘s ebenfalls bereits als Sireena-Rerelease. Für „Ridin‘ The White Horse“ ließen Sinner ein Ohr bei Thin Lizzy, „Time Machine“ von Beast lässt die New Wave Of British Heavy Metal durchklingen. Auch „Rock Blooded“ von Rated X klingt heute reichlich abgehangen – und dann fördert Schäfer „Chains And Leather“ von Running Wild zutage, die so derbe nach Spandex und Haarspay klingen, dass man schnell weiterskippen würde, wäre dies nicht ohnehin der letzte Song der Compilation. Von hier ab wäre es dann Metal.
Als wäre all dies nicht schon horizonterweiternd genug, erspart Schäfer den Hörenden das Googeln, indem er in einem dicken Booklet ausführlichst Infos und Einschätzungen mitliefert. Themengemäß bezieht sich Schäfer bei seiner Auswahl zwar eher auf den „Heavy“- als auf den „Kraut“-Aspekt, also weniger auf Progressivität, Flöten oder Epik, mehr auf Kompaktheit und Rock’n’Roll. Wer von ersterem mehr haben möchte, findet es in den anderen Teilen der „Kraut“-Reihe von Bear Family, also vier Doppel-CDs mit „Kraut!“ und zwei mit „Ost-Kraut!“, plus eben dem Vorgänger zu diesem Doppel-Sampler, „Heavy Kraut!, Teil 1“.