Von Matthias Bosenick (08.11.2013)
Eher tragisch als tragikomisch ist „Henri“, die zweite Regiearbeit der Belgischen Komödiantin Yolande Moreau. Der Titelgeber muss nach dem Tod seiner Frau die gemeinsame Gastwirtschaft weiterführen. Dafür organisiert ihm seine Tochter eine Bewohnerin aus dem örtlichen Behindertenwohnheim. Henris Leben gerät umso mehr aus dem Tritt, als jene Rosette im Heim behauptet, von ihm schwanger zu sein. Moreau filmt in Tradition ihres Helden Aki Kaurismäki und ihrer Freunde Gustave de Kervern und Benoît Delépine, in deren Filmen sie regelmäßig mitspielt. Das Ergebnis überzeugt im klassischen Europäischen Stil und ist ausgesprochen sehenswert.
Von Moreau stammt auch das Drehbuch. Sie erzählt die Geschichte eher unkonventionell, mit Weglassen dessen, was offensichtlich ist (etwa das Sterben der Ehefrau), mit Geräuschen, die Inhalte vermitteln (man hört den Verkehr, sieht aber nur die Fußgängerin auf einer Brücke über die Straße gehen), und mit stoischem Humor. Sie bedient sich langer Einstellungen und karger Dialoge. Ihre Bildkomposition ist wenn vielleicht nicht bahnbrechend, dann aber außerordentlich bemerkenswert. Die rauhe Musik, die sie einsetzt, funktioniert sicherlich auch ohne den Film. Und sie hat fabelhafte Schauspieler.
Henri ist stoisch, oder, um es mit seiner Frau zu sagen: Er hat kein Rückgrat. Sie kommandiert ihn wie ein unmündiges Riesenbaby herum, dabei ist er derjenige, der das Kochtalent hat und das Restaurant schmeißt. Nach ihrem Tod muss es weitergehen, dafür steht im Rosette zur Seite, ein „Papillon blanc“, wie die Bewohner des Behindertenheims in dem Ort genannt werden. Mit „Papillon“ wird Rosette zumeist auch nur angeredet. Henri verliert sich in seinem Hobby, der Taubenzucht, und hat zwei zauselige alte Freunde, die dieses und den Alkohol mit ihm teilen.
Rosette macht sich unentbehrlich und beliebt. Sie und Henri geben sich gegenseitig Anerkennung, was bei Rosette dazu führt, dass sie behauptet, sie sei von ihm schwanger. Die Heimleitung lässt ermitteln und verbietet ihr, je wieder ins Restaurant zu gehen. Henri ist bestürzt und will abhauen – da sitzt Rosette im Auto und will mit.
An der Stelle kann man eventuell am Drehbuch zweifeln: Warum lässt Henri es wirklich zu, dass sie mitkommt? Dafür spricht, dass er eben beim besten Willen keine unlauteren Absichten hat und das Kind ohnehin schon im Brunnen liegt. Irgendwo am Meer kommen sie in einem Appartement unter. Ihre Zweisamkeit ist distanziert, lediglich der Alkohol lockert Henri bisweilen auf. Dann kopiert er Rosette, die deutlich mehr Lebensfreude ausstrahlt.
Anscheinend schlafen sie wirklich einmal miteinander, damit erfüllt sich eine Sehnsuch von Rosette. Doch für Henri gibt es keine gemeinsame Zukunft. Nachdem er den Imbisswagen eines Frittenverteilers kaufte und er ohnehin die ganze Zeit über erwägt, Rosette zurückzubringen, offenbart er ihr irgendwann, dass er wirklich umkehren will: Er sei alt und sie brauche medizinische Hilfe. „Ich bin nicht verrückt, Arschloch“ sagt sie und verschwindet aus seinem Leben. Dieses Abrupte überrascht erneut, doch ist es Rosettes Enttäuschung darüber, dass das schöne Leben ein Ende hat, die sie sich so verhalten lässt, und weniger die Kränkung wegen ihrer Behinderung. Sie kehrt zurück in ihr Heim, Henri in sein Restaurant. Später verschenkt er einmal wie zur Entschuldigung Fritten an die Heimbewohner, Rosette sieht es und lächelt. Mit Henris einsamem Tanz im Lokal endet der Film. Auch funktioniert das Weglassen dessen, was danach kommen könnte, weil alle Erklärungen denkbar sind: Ein Neuanfang für beide allein ist möglich, sogar für beide zusammen, in welcher Form auch immer. Ebenso könnte es sein, dass Henri in seiner Einsamkeit zugrundegeht. Für ersteres spricht, dass „Henri“ auch als „on rit“ verstanden werden könnte: Man lacht. Wieder. Es geht voran.
Bemerkenswert ist die eigene filmsozialisierte Sehgewohnheit: Man erwartet die ganze Zeit über, dass etwas abgrundtief Schlimmes passiert. Doch der Film bleibt seiner Grundstimmung treu und punktet mit stiller, warmer Atmosphäre und fabelhaften Bildern. Die Geschichte ist sanft, trotzdem mitreißend, und erzählt diese ungewöhnliche Liebe mit entsprechenden ungewöhnlichen Mitteln. Miss Ming, die die Rosette hervorragend spielt, war wie Moreau auch schon in „Louise-Michel“, „Der Tag wird kommen (Le grand soir)“ und „Mammuth“ zu sehen. Moreau selbst taucht in einer Nebenrolle auf. Ihr erster Film 2004 hieß übrigens „Wenn die Flut kommt (Quand la mer monte…)“.