Von Guido Dörheide (09.06.2024)
Vorab: Eine kurze Berichterstattung vom Börßumer Bücher Bahnhof, Börßum 2. Juni 2024:
Am vergangenen Sonntag besuchten die Liebste und ich zum ersten Mal Börßum, den beliebten Samtgemeindesitz im Landkreis Wolfenbüttel. Und das ist hier jetzt nicht nur so launig dahingeplappert: Eben diesen Sitz, nämlich den Börßumer Bahnhof in der Bahnhofstraße, der an diesem Tag zum „Börßumer Bücher Bahnhof“ umfunktioniert wurde (was soviel bedeutet wie Börßumer Bücher-Bahnhof oder Börßumer Bücherbahnhof, verzeihen Sie es mir, liebe Lesenden, ichbekämpfeimmernochdasLeerzeichenwoimmerichkann), den haben wir besucht. Während der Fahrt spielten wir „Gelbes Auto“, ein Spiel, das meine jüngste Tochter uns beigebracht hat. Wer zuerst ein gelbes Auto sieht, darf die/den Andere:n antippen und „Gelbes Auto!“ sagen. Dabei zählen auch DHL- und ADAC-Fahrzeuge, was immer schmerzhaft für mich ist, wenn Töchterchen und ich unweit des Wohnsitzes meiner Mutter auf die Schnellstraße einfahren und dabei am DHL-Stützpunkt vorbeikommen. Und vor der Tür des Börßumer Bücher Bahnhofs Gebäudes sahen wir zuallererst – ein gelbes Auto. Nämlich den Bücherbus des Landkreises Wolfenbüttel, der 46 Standorte im Landkreis anfährt und somit vielen Menschen die Literatur und andere Medien vor die Haustür bringt, die aus Gründen keine Bibliothek aufsuchen können. Toll sowas, denn Literatur ist so unendlich wichtig und Einrichtungen, die den Zugang dazu erleichtern, sind aller Lobpreisungen wert.
Das Bahnhofsinnere quoll über von Bücherständen, die zumeist von örtlichen Buchhandlungen organisiert waren, und dazu gab es in einem kleinen Hörsaal Lesungen von Autor:innen, im 20-Minuten-Takt während der gesamten Veranstaltung. Wir sahen und hörten uns den braunschweigischen Thriller-/Krimi-/History-Autor Hardy Crueger an, der eine seiner wunderbaren Okergeschichten (die passenderweise in Hornburg, also gleich nebenan, spielte) las und durchmaßen dann die gut besuchten Ausstellungshallen. Dabei fiel uns der Stand des Autoren Jens Schäfer aus Werlaburgdorf auf: Schäfer hat ein Buch mit dem Titel „Langes „Elend“ veröffentlicht, und einem informativen Aufsteller am Stand konnten wir entnehmen, dass das Buch von einer Person handelt, die als Kind Allerschlimmstes ertragen musste. Unser Interesse bemerkt habend, stellte sich Jens Schäfer zu uns und erzählte, dass es in dem Buch um seine eigene Geschichte geht. Durch Inhaltsangabe und persönliches Gespräch neugierig gemacht, bestellte ich am Folgetag das Buch, zwei Tage später wurde es geliefert und wiederum zwei Tage später hatte ich es durchgelesen. Das Buch hat mächtig Eindruck bei mir hinterlassen, darum komme ich…
… nun zum Inhalt und zur Wirkung des Buches „Langes Elend“:
Jens Schäfer, Jahrgang 1971, beschreibt seine Kindheit von Anfang an. Ab 1975 aus eigener Erinnerung, die Zeit davor hat er aus Rückschlüssen späterer Erlebnisse sowie mit Hilfe seiner älteren Geschwister rekonstruiert. Ich möchte hier nicht zu viel von dem, was Schäfer beschreibt, vorwegnehmen und gehe daher in der hoffentlich nötigen Kürze auf den Inhalt ein:
Jens Schäfer war das Gegenteil von einem Wunschkind, seine Eltern haben sich geliebt, aber nie vertragen, und so zog der Vater aus und Mutter und Sohn (die älteren Kinder hatten den Haushalt bereits verlassen) blieben allein zurück. Die Mutter war weder emotional in der Lage noch irgendwie Willens, ihrem kleinen Sohn ein stabiles und liebevolles Zuhause zu bieten, verkaufte ihre drei gut laufenden Kneipen und zog mit Jens von Osnabrück nach Göttingen, um ihren Ex zurückzugewinnen. Was auf ganzer Linie scheiterte und einen finanziellen, sozialen und emotionalen Abstieg einleitete, den Schäfer in klaren, schnörkellosen Worten erst beschreibt und dann kommentiert und teilweise auch analysiert. Es geht um Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, emotionale und körperliche Gewalt mit daraus resultierenden Problemen in der seelischen Entwicklung, massive Schulprobleme und ständige Angst. Und trotz allem irgendwie noch Liebe zur Mutter.
Irgendwann, Jens ist inzwischen 9 Jahre alt, eskaliert die Situation derart, dass das Jugendamt den Jungen aus dem Haushalt der Mutter herausholt und ein neues Umfeld für ihn sucht. Hier tritt der Vater auf den Plan, der vorher nur jeden zweiten Sonntag wenige Stunden mit Jens verbrachte und ihn ansonsten ignorierte. Er und seine Frau nehmen Jens bei sich auf und geben ihm ein materiell abgesichertes Zuhause, dem jedoch Liebe und Wärme komplett fehlen. Was schlimmer wird, je mehr Vater und Ehefrau feststellen, dass ein jahrelang traumatisiertes Kind nicht die Erfüllung ihres jahrelang gehegten Kinderwunsches darstellen kann und wird.
Mit 17 Jahren zieht Jens in eine eigene Wohnung und beginnt, sein Leben zu gestalten, so gut er es kann. Er entwickelt einen trockenen Humor, mit dem er gut bei seinen Mitmenschen ankommt, beruflich geht es stetig aufwärts, bis hin zur Tätigkeit als quereinsteigender Berufsschullehrer, der nun mit einer Schülerklientel konfrontiert ist, die seinem früheren Ich sehr ähnelt. Schäfer lässt nicht nur sein fachliches Können, sondern auch seine Lebenserfahrung einfließen, um den ihm anvertrauten jungen Menschen beim Weg ins Leben zu helfen. Gleichzeitig bemerkt er immer neue unerklärliche körperliche Symptome, die ihn nicht nur an den Rand der Verzweiflung bringen, sondern ihn einige Male auch fast das Leben kosten. Bis er beginnt, psychische Ursachen für seine gesundheitlichen Probleme aufzuspüren und diese durch eine Therapie in den Griff zu bekommen, ist es ein langer Weg, der geprägt ist vom Willen, in jeder Sekunde Höchstleistungen zu erbringen und alles Erlebte komplett zu verdrängen. Beim Lesen fällt mir sehr deutlich auf, dass Schäfer beispielsweise so gut wie kein Verständnis gegenüber Kollegen aufbringt, die nicht bereit sind, nennenswerte Leistungen zu erbringen und sich stattdessen „durchmogeln“, und das durchaus von sich ebenfalls durchmogelnden Vorgesetzten gedeckt. Diese Ungerechtigkeit regt ihn auf, und ein ums andere Mal war ich versucht, dem Erzähler des Buches zuzurufen, er möge sich mal ein wenig zurücknehmen und die an ihn selbst gestellten Ansprüche nicht auf die ganze Welt übertragen. Bis mir auffiel, dass eben diese unendliche Leistungsbereitschaft und das unerbittliche Immer-weiter-Hochlegen der Messlatte das war, was Schäfer antrieb, Halt gab und die grausame Kindheit einigermaßen in den Hintergrund zu drängen vermochte. Jedoch nicht dauerhaft, wie bereits erwähnt. Weshalb Schäfer eine stationäre Therapie aufnimmt, während der er lernt, dass die in knapp 20 Jahren erworbenen Verletzungen niemals heilen werden, sondern dass es darum geht, mit ihnen leben zu lernen. Am Ende bleibt offen, wie weit Schäfer das bisher gelungen ist, da die Therapieerfahrung erst sehr kurz zurückliegt. Nach der Lektüre seines Buches bin ich jedoch nahezu überzeugt, dass ihm das gelingen wird, und ich drücke die Daumen.
Zahlreiche Dinge sind mir aufgefallen an „Langes Elend“:
Nach manchen Kapiteln tauchen Texte in kursiver Schrift auf, in denen Jens Schäfer das zuvor Erzählte wertet, einordnet und aus seiner heutigen Sicht beschreibt. Dadurch erfahren die Lesenden, was den Autor beim Aufschreiben seines Werdegangs bewegt hat, wie er Dieses und Jenes für sich selbst einordnet und – vor allem – welche Ereignisse besonders schlimm oder besonders prägend waren. Für den Rezensenten, der wie viele seiner Altersgenossen aus einem dysfunktionalen und patriarchalisch geprägten Scheidungshaushalt stammt, seine Kindheit aber als insgesamt okay einordnen würde, ist so ziemlich alles, was Schäfer in seinem Buch beschreibt, jenseits des Vorstellbaren, und so ist es sehr hilfreich, das Gelesene und Unvorstellbare ein wenig eingeordnet zu bekommen. Außerdem rekapituliert Schäfer an einigen Stellen des Buches das bisher Beschriebene/Erlebte und fasst Abschnitte in seinem Werdegang nochmal zusammen, ordnet sie in Kurzform in einen Gesamtzusammenhang ein und lässt die Lesenden dadurch verstehen, was wie, in welchem Zusammenhang und in welcher Intensität abgelaufen ist. Des weiteren fiel mir auf, dass Schäfers Schilderung frei von Selbstmitleid ist. Obwohl er keinen Zweifel daran lässt, dass die ihm widerfahrenen Dinge wohl mehr sind, als die meisten Menschen zu ertragen in der Lage sind, macht er durch seine pathosfreie Schilderung deutlich, dass Überleben und im weiteren Leben erfolgreich sein die einzige Option waren.
„Langes Elend“ ist ein Buch, dass gleichermaßen schockiert und Hoffnung macht. Und, wie Jens Schäfer im letzten Kapitel, „Abschluss“, schreibt, soll es kein Ratgeber sein. Aber es zu lesen und zu verstehen hilft und macht Mut. Das reicht. Mehr als.
„Langes Elend“ lässt sich online bestellen auf https://jensschaefer.com/, ISBN 978-3-00-078849-9.