Von Matthias Bosenick (05.06.2024)
Wenn etwas so Schönes erscheint wie ein neues Album von Beth Gibbons, dann ist es vollkommen egal, dass die Sängerin sich ansonsten rar macht – so lang das, was dann kommt, eben so schön ist wie „Lives Outgrown“. Die Stimme des Trip Hop agiert hier musikalisch komplett anders als mit ihrer Stammband Portishead aus Portishead bei Bristol, denn die Musik auf „Lives Outgrown“ ist analog, akustisch, handgespielt. Schon wieder übrigens ist an einem Beth-Gibbons-Album jemand von Talk Talk beteiligt: War es vor 22 Jahren auf „Out Of Season“ noch Bassist Paul Webb alias Rustin Man, ist es hier – auf dem Nachfolger, wohlgemerkt – Schlagzeuger Lee Harris. Was Wunder, dass man eine Verwandtschaft zu „Laughing Stock“ durchaus wahrnehmen kann. Das Album kommt – Stand heute – in die Jahresbestenliste, neben Solbrud und Fly Cat Fly.
Gibbons gießt Schönheit in Musik und Gesang. Man schwelgt ab dem ersten Ton und hört mit der Schwelgerei nach Verklingen desletzten noch lang nicht auf. Die Musik auf „Lives Outgrown“ ist mit klassischem Instrumentarium erzeugt, der Sound ist warm und an entscheidender Stelle knarzig, die Kompositionen liegen zwischen klassischer Kammermusik, üppigem Drama-Soundtrack, Improvisation und freiem Barjazz nach 4 Uhr morgens. Das Ensemble wird selten richtig laut, auch wenn es mal die emotionale Intensität anhebt, man muss das Album schon von sich aus laut abspielen, und dann bekommt man auch den vollen Genuss. Gut, „Reaching Out“ und „Beyond The Sun“ könnten einem dann schon um die Ohren fliegen, aber das will man ja auch.
In Gibbons Stimme liegt schon immer Zerbrechlichkeit, auch bei Portishead, und diese Fragilität setzt sie nie so ein, dass sie Beschützerinstinkte weckt; vielmehr klingt sie wie eine Person, die Schlimmes erlebte und nun zwar davon gezeichnet, aber mit innerer Reife und Stärke davon berichtet. Oder von etwas ganz anderem und die Erlebnisse einfach beiseite wischt. Was Gibbons macht, ist niemals Kitsch, niemals, bei aller Emotionalität in jedem Stimmenzittern, bei aller gelegentlichen Streicheropulenz, bei jeder schönen Melodie, bei jedem wohligen Arrangement – kein Kitsch. Denn nicht nur sind die Kompositionen kitschfrei, auch lassen diese Raum für musikalische Ausbrüche, für Experimente, für unpopuläre Momente, und diese Verbindung aus allem hebt „Lives Outgrown“ auf die nächsthöhere Ebene.
Was die Musiker hier alles spielen: Akustikgitarre, Streicher, Holz- und Blechblasinstrumente, Harmonium, Vibraphon, Mellotron, Kontrabass, Flöte, Hammond-Orgel, Hackbrett, Piano, Singende Säge, Steel Guitar, Percussion und Schlagzeug, dazu gibt es Orchester und Chöre sowie Field Recordings. Nicht alles in jedem Lied, aber aufs Album verteilt. Allein diese Liste strahlt schon musikalische Wärme und Variabilität aus, und ja, genau so klingt das Album auch. Die Opulenz trägt das Ensemble Orchestrate bei, weitere Musiker und Komponisten sind neben Talk-Talk-Schlagzeuger Lee Harris: Simian-Drummer James Ford, der auch schon von den Pet Shop Boys und Bastille gebuchte Sänger Senab Adekunle, Multiinstrumentalist Raven Bush, der unter anderem mit den Pretenders und Mark Knopfler aktive Gitarrist Robbie McIntosh, Ex-Mystery-Jets-Gitarrist William Rees und Multiinstrumentalist Howard Jacobs.
Während man sich „Lives Outgrown“ rund um die Uhr anhört, guckt man mal im Internet, um sich zu vergewissern, dass es von Beth Gibbons wirklich nur vier Alben mit Portishead sowie ihr Quasi-Debüt mit Rustin Man gibt und man nun mit dem neuen Werk die Sammlung vollständig hat. Hat man nicht, wenn man nicht die halboffizielle Live-LP „Acoustic Sunlight“ mit Rustin Man, die ebenfalls mit ihm veröffentlichte EP „3 Live Tracks Recorded At L’Olympia, Paris“ sowie die mit dem Polnischen Radio-Sinfonie-Orchester eingespielte „Sinfonie Nr. 3“ von Henryk Górecki im Regal stehen hat. Insbesondere erstere beide Tonträger dürften jedoch nur schwer zu erwerben sein. Naja, und ob man sich alle ihre Gesangsbeiträge bei anderen Kunstschaffenden zulegt – okay, .O.Rang sicherlich schon, wegen Webb und Harris, und wenn man schon dabei ist, dann auch „Rendez-Vous“ von Jane Birkin (sowieso und wegen „Strange Melody“) und womöglich sogar „Mr. Morale & The Big Steppers“ von Kendrick Lamar (wegen „Mother I Sober“).
Lücken sind nicht schlimm, wenn man Portishead sowie „Out Of Season“ und „Lives Outgrown“ besitzt. Letzteres endet mit einem wiederkehrenden Quietschgeräusch über einer Streichermelodie, das nicht nervt, sondern den Eindruck vermittelt, die Protagonistin entspanne sich zum Ausklang und nach Verarbeitung ihrer Erlebnisse am Abend auf einer Schaukel im sommerlichen Garten. Alles ist gut, die Vöglein zwitschern, es gibt gar nicht so etwas wie Böses auf der Welt.