Von Matthias Bosenick (03.05.2024)
Die kuriosen Fakten vorneweg: Bei „Blessings Of The Highest Order“ handelt es sich um die Doppel-LP-Version einer vier Jahre alten Download-Compilation mit Sludge-Coverversionen von Nirvana-Songs, die die Band Thou aus Baton Rouge über die Jahre auf verschiedenen Veröffentlichungen gestreut hatte, plus einem neuen Song – nur in anderer Reihenfolge und mit einem unästhetischen Cover. Was das soll? Erstmal wurscht: An der Qualität der Grunge-Hits von vor über 30 Jahren rütteln die neuen Versionen nicht, zumal, und das ist wohl die größte Überraschung, sich die Sludge-Versionen musikalisch oftmals gar nicht so weit von den Originalen unterscheiden. Der Keif-Kreisch-Gesang stellt hier den größten Umgewöhnungsfaktor dar, ansonsten ist das Album die Einladung zu einer nostalgischen Abrissparty.
Über die Geschichte von Nirvana aus Seattle bei Vancouver ist seit damals genug gesagt, nur so viel: Die zur kommerziellen Hochzeit vom Quartett zum Trio reduzierte Band wälzte so einiges um, sie zwang den Metal zur Neuorientierung (mit oftmals verheerenden Folgen), etablierte den Wechsel des Untergrunds zu Majorlabels (mit oftmals wenig nachhaltigen Folgen), beeinflusste die Mode mit Karos (mit oftmals olfaktorisch wie optisch schmerzhaften Folgen) und markierte überhaupt eine der größten Kulturrevolutionen im Pop-Biz. Nirvana waren alsbald so sehr jedermanns Angelegenheit, dass man die Band wie das Genre Grunge an sich bald über hatte, nicht zuletzt markierte der Suizid von Sänger Kurt Cobain vor ziemlich exakt 30 Jahren das Ende jener Ära. Von der heute nur noch Mudhoney, Pearl Jam und gewissermaßen die Melvins sowie einige nicht weiter nennenswerte Epigonen aus der dritten Reihe übrig sind.
Die Melvins? Sludge im Grunge-Kontext? Da geht’s ja schon los, als Band aus Seattle waren sie 1996 – also bereits nach dem Ende der Grunge-Hochzeit – Teil der Doku „Hype!“ und zählten somit für viele als Beifang zum Grunge-Kontext. So weit weg sind Thou davon also gar nicht, und wenn man sich deren Version von sarenwama „Floyd The Barber“ oder „Sifting“ anhört, wird einem erst richtig bewusst, wie nah dran am Sludge Nirvana selbst bereits waren. Thou verzerren ihr Instrumentarium, verleihen dem Bass Fuzz, kreischen dazu (mit Ausnahmen, „Milk It“ zum Beispiel beinhaltet klare Gesangspassagen), aber was sie nicht tun, ist, die Songs sämtlichst zu verlangsamen – was man beim Etikett Sludge erwartet hätte; „Territorial Pissings“ etwa brettert in der Live-Version hier sogar noch gefühlt flotter davon als bei Nirvana.
Was Thou ebenfalls unterlassen, ist, sich auf Hits und Fanlieblinge festzulegen. „Smells Like Teen Spirit“ ist nicht enthalten (das übernahmen +HIRS+ 2018 noch auf der gemeinsamen Split-LP „I Have Become Your Pupil“, deren Thou-Anteil hier komplett enthalten ist), dafür viele Vor-„Nevermind“-Kracher sowie Besonderheiten wie „Endless Nameless“, den grandios-chaotischen Hidden Track, der dem Hit-Album ab der zweiten Auflage angehängt war, B-Seiten oder das Feedback-Gewitter „I Hate Myself And I Want To Die“, das prophetische Stück, das Nirvana 1993 der Compilation „The Beavis And Butt-Head Experience“ sowie ein Jahr später als gekürzte B-Seite ihrer Single „Pennyroyal Tea“ beisteuerten, in beiden Fällen allerdings als „I Hate Myself And Want To Die“, also mit einem I weniger. Höhepunkt und Abschluss ist die Neun-Minuten-Version eines Stückes, das gar nicht von Nirvana ist: Das Leadbelly zugeordnete „Where Did You Sleep Last Night“ adaptierte die Grunge-Band für die MTV-Unplugged-Reihe (bei Thou hieß es digital 2020 noch „My Girl“, wie es seit 1870 ebenfalls bekannt ist, erst physisch bekommt es den Nirvana-Titel).
Die Sammlung ist ein interessanter Ausflug in eine Jugend, die man hinter sich gelassen wähnte, die Thou indes weder dekonstruieren noch glorifizieren, vielmehr bilden sie es auf ihre Weise ab, die mit der von Nirvana ohnehin verwandt ist. Dreißig Jahre später kann man auch mal wieder zurückblicken und feststellen, wie geil die Mucke damals tatsächlich war, auch ohne den Hype.
Blessings Of The Highest Order | Thou-Quelle | Nirvana-Quelle | |
1 | Blew | „I Have Become Your Pupil“-Split mit +HIRS+, 2018 | „Bleach“, 1989 |
2 | School | „I Have Become Your Pupil“-Split mit +HIRS+, 2018 | „Bleach“, 1989 |
3 | Stain | „I Have Become Your Pupil“-Split mit +HIRS+, 2018 | „Blew“-EP, 1989 |
4 | In Bloom | „I Have Become Your Pupil“-Split mit +HIRS+, 2018 | „Nevermind“, 1991 |
5 | Scentless Apprentice | „I Have Become Your Pupil“-Split mit +HIRS+, 2018 | „In Utero“, 1993 |
6 | Territorial Pissings | „I Have Become Your Pupil“-Split mit +HIRS+, 2018 | „Nevermind“, 1991 |
7 | Aneurysm | „To Carry A Stone“-Single, 2008 | „Smells Like Teen Spirit“-Single, 1991 |
8 | Floyd The Barber | „Doused In Mud, Soaked In Bleach“-Compilation, 2016 | „Bleach“, 1989 |
9 | Sifting | „Baton Rouge, You Have So Much To Answer For“-EP, 2018 (als „Aberdeen, Washington“) | „Bleach“, 1989 |
10 | Milk It | „In Utero: In Tribute“-Compilation, 2014 | „In Utero“, 1993 |
11 | I Hate Myself And I Want To Die | „The Sacrifice“-EP, 2014 | „The Beavis And Butt-Head Experience“, 1993 |
12 | Dive | exklusiv | „Sliver“-Single, 1990 |
13 | Even In His Youth | „Whatever Nevermind“-Compilation, 2015 | „Smells Like Teen Spirit“-Single, 1991 |
14 | Endless Nameless | „Whatever Nevermind“-Compilation, 2015 | „Nevermind“, 1991 |
15 | Something In The Way | „The Archer & The Owle“-EP, 2011 | „Nevermind“, 1991 |
16 | Where Did You Sleep Last Night | „Riffs For Repruductive Justice“-Compilation, 2019 | „MTV Unplugged In New York“, 1994 |