Von Matthias Bosenick (18.04.2024)
Endlich ist das Vinyl draußen! In anderen Darreichungsformen liegt „Los Angeles“ bereits seit Ende November 2023 vor, nun also auch als Doppel-LP. Darauf hört man nicht nur die Musik einer klassischen Supergroup – „Los Angeles“ verhält sich vielmehr wie eine Compilation grandioser Songs verschiedener Genres, weil das verdiente Trio aus den Schlagzeugern Lol Tolhurst und Budgie sowie dem Produzenten Jacknife Lee einen Haufen Gäste aus allen Ecken der Musikgeschichte hinzuzog. Und zwar nicht nur aus dem Kontext von The Cure, Siouxsie And The Banshees oder aktuellen Chartsproduktionen: Auch LCD Soundsystem, Primal Scream und U2 schickten Abgesandte, um dieses Album zu verfeinern. „Los Angeles“ dürfte eines der besten, weil anspruchsvollsten und abwechslungsreichsten Post-Punk-Indie-Pop-Alben seit Ewigkeiten sein.
Auf fällt: Es sind fast keine Frauen an Bord, lediglich Harfenistin Mary Lattimore fand Einlass in diese Männerrunde. Deren Musik ist selbstredend schlagzeugbasiert, viel Percussion, tanzbare Beats, klar, wenn zwei Drittel der Initiatoren Drummer sind. Nicht ausschließlich, und der zusätzliche Dritte spielt selbst Keyboards und Gitarren, und so erstellte das Trio Tracks, für die es zusätzliche als Gäste Singende und Musizierende fand, die mit ihren eigenen Noten dem Album einen vielseitigen Überbau verliehen.
Eine besondere Rolle fällt James Murphy zu: Der Neo-Disco-Tanzkapellen-Maestro von LCD Soundsystem hat in „Skins“ das letzte Wort und überdies das auf dem Titeltrack, dem zweiten Song auf dem Album. Doch zuvor eröffnet Bobbie Gillespie, bekannt seinerseits als Schlagzeuger von The Jesus And Mary Chain sowie hernach als Kopf von Primal Scream, den Reigen: Sein „This Is What It Is (To Be Free)“ ist ein eher chilliges, fast psychedelisches Stück Gospel-Pop, das erst im Verlauf einen Upbeat und zusätzliches Instrumentarium bekommt, Streicher etwa. So startet man ein Album: Langsam kommen lassen, die großen Gefühle ansprechen und dann aufdrehen. Mit den synthetischen Beats von James Murphy nämlich, der zum Glam-Rock-Rhythmus von „Los Angeles“ mantraartig singt wie bei seiner Stammband, dazu klöppeln Leute auf allerlei Percussion und Schlagstabinstrumenten herum. Mit über sechs Minuten ist sein Song zudem der längste des Albums, sein „Skins“, das das Album so chillig entfleuchen lässt, wie es begann, mit gut fünf Minuten das drittlängste.
Mit Sänger Arrow de Wilde von Starcrawler und Gitarrist Mark Bowen von den Idles wird es erstmals lärmig: Deren „Uh Oh“, nicht zu verwechseln mit dem Noiserock-Hit von Speaker Bite Me, dringen aufgekratzte Gitarren und hektische Sounds in den Fluss ein, der Song galoppiert und kreischt. „Ghosted At Home“ mit Bobbie Gillespie könnte mit dem verdrogten Midtempo-Beat, den psychedelischen Sounds, dem Gospel-Refrain und der gedimmten Madchester-Orientierung auch von seiner Band Primal Scream sein. Kaum zu erkennen ist der Gast bei „Train With No Station“: U2s The Edge entlockt seiner Gitarre Sounds, die er bei seiner Stammband eher in den wenigen experimentelleren Stücken anwenden darf. Er selbst bezieht seine Arbeit hier auf „Snake Charmer“, die ihrerseits experimentelle Dance-EP, die er 1983 mit Holger Czukay von Can und Jah Wobble von PIL sowie weiteren Helden einspielte. Sein Stück ist überdies das erste Instrumental des Albums.
Den Soul bringt Lonnie Holley ins Album ein, er knödelt und grantelt sein „Bodies“ zu einem technoiden Beat. Die größte Überraschung bei diesem zweitlängsten Stück des Albums ist der Übergang zum Harfenteil, den Mary Lattimore zu dezenten Ambient-Flächen vollführt. Wunderschön, das gefällt Loreena McKennitt, und der singende Künstler lässt sich auch nochmal kurz hören. „Everything And Nothing“ ist das zweite Instrumental und kommt ohne Gäste aus, hier treibt sich das Trio im Club herum und formt Streicher, eine dezente Melodie sowie reichlich percussive Spielereien zu den Beats. Der nächste Gast ist Pan Amsterdam: Unter diesem Alias tritt der Jazz-Trompeter Leron Thomas als Rapper auf, und so verfährt er auch in „Travel Channel“, einem Downbeat-Trip-Hop-Stück mit Scratches und Trompeten-Samples.
Seinen dritten und letzten Auftritt hat Bobby Gillespie in „Country Of The Blind“, abermals einem nach bewusstseinserweiternden Mitteln klingenden Song im unteren Midtempo, der in „The Past (Being Eaten)“, ein Ambient-Instrumental, ausgleitet, dem letzten Stück ohne Gäste und mit anderthalb Minuten das kürzeste Stück des Albums. Isaac Brock alias Modest Mouse holt in „We Got To Move“ rhythmisch den DAF-Stil ins Album, man könnte es fast in „I’m A Gabi/Görl“ umtaufen, doch passt da der Gesang nicht, der ist viel zu melodisch. Der zweite Einsatz von The Edge im trippigen Instrumental „Noche Obscura“ klingt abermals nach „Snake Charmer“, und auch nach LCD Soundsystem, die ja erst im nächsten, dem letzten Song an der Reihe sind. So geil werden U2 wohl leider nie wieder sein.
Interessant ist die Entstehungsgeschichte dieses Albums: Zunächst traten The-Cure-Mitgründer Laurence Tolhurst und Siouxsie Sioux‘ Ex-Gatte Budgie, die sich seit 1979 kennen, mit Bauhaus-Schlagzeuger Kevin Haskins zusammen, den aber seine Hauptband live einspannte, weshalb er das Trio wieder verließ. Die ersten Aufnahmen empfanden die drei als zu nah am erwartbaren Sound, weshalb sie sie wieder löschten. Als neuen dritten Mann holte Tolhurst dann seinen Nachbarn Garret Jacknife Lee an Bord, mit dem sie an Schlagzeug, Gitarre und Keyboards sowie künstlichen Stimmen herumexperimentierten, bis plötzlich The Edge vor der Tür stand und sich mit seiner Gitarre einbrachte. Die Pandemie verhinderte eine Vollendung der Aufnahmen, weshalb das Trio beabsichtigte, diese instrumental zu veröffentlichen, bis James Murphy sich anbot, Gesang beizusteuern. Damit brachen die Dämme und das Basis-Trio lud die weiteren Gäste ins Studio. Alle Singenden schrieben zudem ihre Texte selbst zu den Tracks.
Vermutlich ist es diese unorthodoxe Entstehung, die „Los Angeles“, benannt nach der Stadt, die auch das Kernthema des Albums bildet, so großartig macht. Keine Pläne, keine Absichten, einfach zusammensetzen und jammen, Kumpels in die Hütte holen und los. Fast eine Stunde Musik kommt dabei heraus, und die ist so gelungen, dass man sich nicht entscheiden kann, ob man sich eine Fortsetzung wünschen sollte oder besser nicht. Mit den Gothic-Rock-Bands, aus denen zwei der drei Kernmusikern stammen, hat „Los Angeles“ nur sehr wenig zu tun, allenfalls mit Budgies Band The Creatures, in der das Rhythmische einen höheren Stellenwert hatte. Wenn, dann lassen sich allenfalls Vergleiche zu den frühen Talking Heads ziehen, wegen Kunst und Disco als Melange. Aber Vorbilder haben die Beteiligten gar nicht nötig, solche sind sie ja selbst.