Von Guido Dörheide (24.03.2024)
Manche Musik zu hören ist immer wie eine Reise in meine Kindheit. Zum Beispiel The Jesus And Mary Chain. 1987 hörte ich in den BFBS Top 40 den Song „April Skies“ (BFBS stand für „British Forces Broadcasting Services“ und versorgte die Angehörigen unserer Besatzungsmacht und hunderttausende deutsche Jugendliche zu Zeiten des Kalten Krieges mit britischer Kultur. Die allsonntäglichen „BFBS Top 40“ waren laut Eigenauskunft die „fastest moving charts in Europe“ und für mich damals Pflichtprogramm.), war begeistert, und als ich dann 1988 mit meinem besten Freund Klaus den Osterurlaub in Poole, Dorset, verbrachte (eine Sprachreise der Braunschweiger Arbeiterwohlfahrt, auf der wir dank unseres Bustickets sowohl Poole als auch die Nachbarstadt Bournemouth mehrere Male im legendären Routemaster durchmaßen und bei Joan und Mervin, einem liebenswerten älteren Ehepaar, die englische Gastfreundschaft kennen- und lieben lernten), erstand ich im örtlichen HMV-Store sowohl das den von mir geliebten Titel beinhaltende Album „Darklands“ als auch das bis heute gefeierte Debüt „Psychocandy“.
Nur, dass ich Zweitgenanntes nicht feierte, sondern ob seines schrillen Sounds und dem weitgehenden Fehlen von Melodien zunächst mal als „bestimmt für die Musikgeschichte total wichtig, für mich aber wesentlich weniger genießbar als ‚Darklands‘“ für einige Jahre ins Regal verbannte. Natürlich sehe ich das inzwischen anders. „Psychocandy“ ist ein apselutes Großwerk des noisigen Indie der 80er Jahre (wenn nicht sogar dessen Grundstein), dennoch höre ich „Darklands“ bis zum heutigen Tag immer noch wesentlich lieber und halte das darauf folgende „Automatic“ für das beste Album der Gebrüder Jim und William Reid aus East Kilbride in Schottland. Mit „Munky“ sorgten JAMC für das gruseligste Albumcover, das ich kenne, noch heute nehme ich die CD nicht aus dem Regal, um das Coverbild nicht ansehen zu müssen. Die beiden Brüder waren dafür bekannt, sich gegenseitig mächtig auf die Glocke zu hauen und zu streiten, wann immer sich die Gelegenheit bot. Folgerichtig brach die Band 1999 auseinander, formierte sich dann aber 2007 neu und 2017 erschien mit „Damage And Joy“ ein wunderbares neues Album. 2023 gab es dann „Sunset 666“, ein Livealbum, das alle Werke der Brüder seit 1994 in den Schatten stellte, und seit letztem Freitag steht nun „Glasgow Eyes“ in den Regalen von HMV, JPC, etc. pp. und braucht hoffentlich auf Kaufende nicht lange zu warten. Denn es ist wirklich gut.
Ohne Scheiß: Seit „Honey’s Dead“ Anno 1992 enttäuscht mich jedes neue Album von The Jesus And Mary Chain (Jahaaaa – auch „Stoned & Dethroned“ von 1994, trotz „Sometimes Always“ mit dem bezaubernden Gesang von Isobel Campbell, wobei das auch Wurscht ist, denn Campbell singt auch auf dem letztjährigen Livealbum „Sunset 666“ mit und dieses ist über wirklich jeden Zweifel erhaben (außer, dass „April Skies“ fehlt), und das gleich auf mehreren Stücken und rehabilitiert somit das gemeinsame Werk in beeindruckender und somit vollkommen hinreichende Art und Weise), mit Ausnahme von „Damage And Joy“, weil das gefühlt 100.000 Jahre nach der Auflösung der Band zeigte „Oh Hammer, sie können es noch!“ Aber diese Einschätzung zeigt bereits, dass meine damalige Sicht auf das Album eventuell doch durch die jahrelange Absenz der Band vielleicht ein klitzekleines Bisschen verklärt gewesen sein mochte.
Nun aber „Glasgow Eyes“. Der Rezensent ist abgeklärt wie kein Zweiter, auf „Sunset 666“ gilt es nichts on top obendraufzusetzen, „Psychocandy“ ist inzwischen ein großartiges (wenn nicht DAS großartigste) Werk des 80er-Jahre-Indie-Rocks, „Automatic“ immer noch das hervorragendste Album von JAMC, also OK, lassen wir den neuen Silberling mal rotieren und die guten Zeiten rollen. Kann ja logisch nur enttäuschen.
Tut es aber nicht! „Glasgow Eyes“ ist tatsächlich das JAMC-Album mit der größten Hitdichte. Schon der Opener „Venal Joy“ überzeugt mit elektronischem Schlagzeuggeplucker (scheiß was drauf, dass Bobby Gillespie früher mal ein echtes Schlagzeug bei The Jesus And Mary Chain gespielt hat, nämlich auf „Psychocandy“), dem wunderbaren Gesang Jim Reids und Textzeilen wie „I’m on fire, piss on fire, don’t piss on fire“. Dann haben wir da noch „jamcod“, das irgendwie den Spirit von „April Skies“ mit dem von „Sometimes Always“ vermengt, hier fehlt nur noch der Gesang von Isobel Campbell, aber mal ohne Scheiß – Jim Reid kriegt das alleine auch gut hin. Warum das Ganze „Jesus And Mary Chain Overdose“ heißt, erschließt sich mir nicht, mehr wohldosiertes JAMC geht eigentlich nicht. Nächster Hit: „The Eagles And The Beatles“. Allein der Text ist Welt: „I’ve been rolling with the Stones, Mick and Keith and Brian Jones“. Wer außer den Reids denkt heute noch bei den Stones an Brian Jones? Niemand tut, jeder sollte. Neben den besagten Rolling Stones werden auch noch Bob Dylan, die Beach Boys und Andrew Oldham mit Lob bedacht, und das wurde auch längst mal Zeit. Jim Reid hat minnichstens seit „Darklands“ einen apseluten Signature-Gesang für JAMC geprägt und sein Bruder William einen unverwechselbaren Gitarrensound. Auf „Silver Strings“ wird es dann Zeit, davon mal abzuweichen, man erkennt nix und alles hört sich großartig an. „Chemical Animal“ haut in exakt dieselbe Kerbe, nur anders, und auf „Second Of June“ sind dann die alten JAMC, wie wir sie hören wollen, wieder da. Und das komplett akustisch und ohne Schlagzeug, Hammer! Auf „Girl 71“ wiederholen Jim und William dasselbe Kabinettsstück, nur diesmal mit Schlagzeug und bratzigem „Wild Thing“-Gitarrenriff. Dennoch klingt der Song sanft und weich, und das mit den tollen JAMC-Gitarrenakkorden und Gesangsmelodien. Den Vogel schießt dann am Ende des Albums „Hey Lou Reid“ ab. Es ist ja schon wirklich seehr großkotzig von den Gebrüdern Reid, den eigenen Familiennamen in einen Zusammenhang mit Lou Reed zu stellen, aber irgendwie schaffen es die beiden hier ziemlich mühelos, gleichermaßen wie Reeds einstige Band Velvet Underground und wie sie selbst zu klingen, von daher dürfte Lou Reed beim Hören recht fröhlich in seinem Grab rotieren.
Wenn also Bo Diddley Jesus ist (so proklamierten es die Reid Brothers auf ihrer 1988er B-Seiten-Kompilation „Barbed Wire Kisses“, einem Album, das sogar noch besser ist als „Sunset 666“), dann sind Jim und William Reid auf jeden Fall auch Jesus, und ihre Partnerinnen sind ebenfalls Jesus.