Von Matthias Bosenick (13.02.2024)
Vancouver, Kanada, 1990. Seit bis zu acht Jahren mischen EBM-Bands wie Skinny Puppy und Front Line Assembly die Szene auf, mit eigenen Sounds, die sich von denen der europäischen Vertreter reichlich unterscheiden: trotz harmonischer und poppiger Anteile harscher, härter, räudiger, monotoner, düsterer, brutaler. Die einen sind im Grunde ein Seitenarm der anderen: Bill Leeb gründete Front Line Assembly 1986, nachdem er Skinny Puppy verlassen hatte. 1990 also tun sich deren Musiker Cevin Key (der heute Geburtstag hat) und Dwayne R. Goettel mit ihrem Ex-Kollegen Bill Leeb zusammen und formieren für zwei 12“es und das Album „Tenebrae Vision“ das Projekt Cyberaktif. Parallel erscheinen die wegweisenden Alben „Caustic Grip“ von Front Line Assembly und „Too Dark Park“ von Skinny Puppy und binden die Energien für die jeweiligen Kreativitäten und somit die Karrieren – für die nächsten rund 30 Jahre. Jetzt jedoch löst Cevin Key Skinny Puppy zum zweiten Mal auf und vertändelt Bill Leeb seine Energien in weniger substanziellen FLA-Alben, da kreuzen sie abermals ihre Schwerter – und präsentieren „Endgame“, von dem man sich indes deutlich mehr Wumms erhofft hätte. Das Album ist so weich, dass es eher enttäuscht. Parallel gibt’s „Tenebrae Vision“ als Doppel-CD mit sämtlichen 12“-Tracks neu, davon hat man deutlich mehr und es klingt sogar frischer.
Natürlich schreiben Cyberaktiv den Albumtitel „eNdgame“, so wie sich Kevin Crompton selbst stets cEvin Key schreibt (und seine Titel sämtlicher Projekte ebenfalls in solchen Groß-Kleinschreibungsvariationen). Da Goettel ja 1995 verstarb, darf dieses Mal Bill Leeb einen Wegbegleiter als Triovervollständiger hinzuziehen: Rhys Fulber hat seine Finger mit an den Tasten, FLA-Gelegenheitsmitmusiker Chris Peterson ist außerdem als Gast dabei, Allzeitkumpel Greeg Reely masterte alles. Liest sich wie eine perfekte Ausgangsbasis für ein modernes Electro-Album mit brontalen Knalleffekten.
Ist es aber nicht. Es gibt einige treibende Tracks, gleich der Opener „A Single Trace“ geht gut nach vorn, „You Don’t Need To See“ übernimmt den von Skinny Puppys Hit „Assimilate“ im EBM omnipräsenten Dreiviertel-Glam-Takt in beschleunigter Form, es gibt hübsche Synthie-Sequenzen und Effekte, dazu Leebs milden Gesang. „Endgame“ ist sicherlich tanzbar, doch insgesamt eher auf eine befremdliche Weise poppig, gutgelaunt, nett. So ähnlich gestalteten Leeb, Fulber und Reely bereits das letzte FLA-Album „Mechanical Soul“, nachdem Leeb und Reely mit dem verstorbenen Jeremy Inkel noch einige Alben zuvor den grandiosen Knaller „Echogenetic“ abgeliefert hatten. Oh. Das war 2013, gleichsam der Zeitpunkt des letzten Studioalbums von Skinny Puppy, „Weapon“, das Key mit Nivek Ogre und Mark Walk einspielte. Solo und unter teils vertrauten Projektnamen wie Download gab‘s von Key danach noch einige lohnenswerte Alben, aber auch die lassen sich mit „Endgame“ nicht direkt vergleichen.
Wie kommt es nun also zu so einer Glattbügel-Dominanz? Die schlimmstens sogar noch in so einem Schlager wie „In deinen Träumen“ mündet, gesungen vom gebürtigen Wiener Leeb, der sich in den Achtzigern noch Wilhelm Schroeder nannte. Das weckt böse Erinnerungen an die unsägliche „Rock Me Amadeus“-Version, die FLA 2019 auf „Wake Up The Coma“ einschummelten. Einzig der Song „Broken Through Time“ greift den Geist der alten EBM-Zeiten wieder auf, die man in Nordamerika kurioserweise als Industrial bezeichnete: monotone Sequenzen, verschleppter gebrochener Beat, gebellte Vocals, eingebaute Sprachsamples. Im Refrain werden Cyberaktif dann allerdings wieder poppig. Der Rauswerfer „Splot“ bündelt so manche Effekte ohne hinterlegte Songstruktur, bleibt dabei indes milde.
An der Produktion ist hingegen gar nichts auszusetzen, die knallt mehr, als es die Musik allein vermag. Jeder Ton sitzt und glänzt glasklar, das Album lädt zum Lauthören ein. Schade nur, dass man es nicht durchgehend so laut auch hören mag. Aber es gibt ja noch das Debüt, und das jetzt sogar als Doppel-CD.
Mit der 12“ „Nothing Stays“ und der noch stark von den Sequenzen von Nitzer Ebb beeinflussten Folge-12“ „Temper“ begann die Reise 1990, auch der mit Blixa Bargeld aufgenommenen B-Seite „Meltdown (Parody)“ hört man den Einfluss der Engländer an. Diese zusammen sieben Tracks sind auf der Bonus-CD zu „Tenebrae Visions“ enthalten, als Bonus gibt es eine bis dahin rare Neubearbeitung von „Nothing Stays“ durch Beatbox Inc, einem remixenden Produzenten-Team; der Track erschien 1991 auf dem sechsten Teil der „Funky Alternatives“-Serie von Concrete Productions, dem Label des Teams. Die CD- und die LP-Version des Original-Albums unterschieden sich 1991 noch um den Song „House Of Pain“, der in der Neuauflage seinen Platz auf dem Haupt-Album einnimmt. Auf dem war Bargeld ebenfalls schon zu hören, und zwar im dort schon falsch geschriebenen Track „Paradiessiets“, der indes nichts mit „Paradiesseits“ auf dem Einstürzende-Neubauten-Album „Perpetuum Mobile“ gemein hat.
Auch „Tenebrae Vision“ war 1991 schon deutlich kompromissbereiter, als es die Einzelteile selbst zu dem Zeitpunkt waren. Skinny Puppy hatten schon mehr als ein halbes Dutzend Alben im Regal, mit Dancefloor-Hits wie „Worlock“, „Tin Omen“, „Rodent“, „Testure“, „Dig It“ und „Smothered Hope“, ganz abgesehen vom Überhit „Assimilate“, die allesamt kompromissloser waren als die „Visionen der Dunkelheit“. Ähnlich bei Front Line Assembly, die etwas später loslegten, aber ihrerseits rauhe Tracks wie „Digital Tension Dementia“ und „Bloodsport“ im Repertoire hatten. Beide Bands bereiteten sich um 1990 und 1991 auf die jeweils nächsten Schritte vor, die kaum weniger druckvoll gerieten: FLA brannten mit „Caustic Grip“ und „Tactical Neural Implant“ die Tanzböden nieder, bastelten an zahllosen Nebenprojekten und hoben an, sich via „Millennium“ im Feld des Gitarren-Industrial einzupflügen, während es bei Skinny Puppy mit „Too Dark Park“ und „Last Rights“ ähnlich aggressiv-elektronisch voranging und mit „The Process“ nach Goettels Tod eine erste Unterbrechung fand.
Inzwischen sind die alten Helden nicht nur müde, sondern eben auch alt, ganz offenkundig. Hört man beide Alben nacheinander, greift man anschließend automatisch lieber wieder zum Debüt. Zumindest, sofern man als Fan nicht ebenso milde wurde wie die Musiker.