Von Matthias Bosenick (08.12.2023)
In Marseille etablierte sich in den Achtzigern ein musikalisches Kunstprojekt, das bis vor wenigen Jahren aktiv war und unendliche Alben und Nebenarme abwarf. Eines der frühesten musikalischen Dokumente ist das 1986 erschienene selbstbetitelte Tape „Leda Atomica“, auf dem das Kollektiv synthetisch unterfütterte Kunst machte, minimalistisch, stimmlastig, expressionistisch, theatralisch, experimentell. Bei dieser Synthiemusik geht es nicht um Beats und Tanzbarkeit, hier geht es ums Zuhören und, ja, Genießen des Ausdrucks, den die Künstler suchten. Musik wie diese sah sich seinerzeit und auch heute noch vornehmlich an gruftigen Genres wie Darkwave oder Minimal-Synth angedockt, die Band selbst schlug hernach aber ganz andere Wege ein. Das nach einem Gemälde von Salvador Dalí benannte Projekt lässt mit diesem nun digitalisiert verfügbaren Tape tief in die französische Experimental-Geschichte eintauchen.
Eigentlich war der Sound auf „Leda Atomica“ auch 1986 bereits retro, Musik dieser Art gab es seit bestimmt 1978 mit der Hochphase zum Wechsel des Jahrzehnts und die Technik entwickelte sich rasant weiter, da klang Synthiemusik zur Zeit der Entstehung des Tapes schon wesentlich fetter als hier. Aber um Verkaufbarkeit oder Massentauglichkeit ging es Leda Atomica ja nicht, hier war die Kunst an vorderste Stelle gestellt.
Man darf also auch nicht erwarten, hier mit klanglicher Schönheit konfrontiert zu werden, der Ausdruck steht über dem Wohlgefallen. Sicherlich lassen sich Songs wie „La Marche Infernale“, „Géronimo“ oder „Get You A Gun“ mit NDW-Rhythmus und wilder synthetischer Melodieführung auch auf dem Electro-Floor einer Gruftdisco ins Set einbauen, irgendwo zwischen P1/E, No More oder Trisomie 21, aber Leda Atomica stechen daraus hervor, nicht zuletzt mit dem expressiven Gesang von Leila Mafu. Der wiederum erinnert an eine ganz andere französische Experimental-Band: Stella Vander von Magma mit ihren hohen Tönen findet hier Einfluss. Die männliche Stimme wiederum hat die Trockenheit von The Perc, in den ausgelassenen Duett-Situationen erinnert es an Les Rita Mitsouko.
In einigen Stücken ist der synthetische Rhythmus die Grundlage für mehrstimmige Singspiele, andere kommen ohne Gesang ganz mit Samples oder groovy Melodiefragmenten aus. Es gibt in den 17 Tracks eine Menge zu entdecken, trotz der minimalistischen Herangehensweise, denn die Band strahlt eine immense Energie aus.
Diesem einstündigen Tape ging 1982 die Single „Docteur Jekyll et Mister Hyde“ voran, ein Cover des Serge-Gainsbourg-Stücks. Discogs listet zwei weitere Alben aus den Neunzigern und ein undatiertes Tape auf, die eher zwischen Punk und Rock angesiedelt waren. Die Hauptakteure Philippe Torel alias Phil Spectrum, verstorben 2017, und Nicolas „Nick“ Zaroff wandelten die Band in den Neunzigern um in Leda Atomica Musique, einen Hybriden aus Band, Label und Kunstkollektiv. Auf der Bandcampseite von Leda Atomica Musique gibt es haufenweise Material zu bestaunen, inklusive Nebenprojekten, nur fehlt dort ausgerechnet dieses Tape. Das gibt’s aber auf allen anderen Streamingplattformen. Eine schöne kulturelle Zeitreise! Und nicht verwechseln mit Leda Atomica aus Los Angeles, bitte.