Von Guido Dörheide (02.08.2023)
Vorsicht! Der Titel dieser Aufnahme aus dem Jahr 1961 ist in extremer Weise irreführend. Ein Schelm, der denkt, hier handele es sich um eine Aufnahme von John Coltrane und Eric Dolphy, die gemeinsam auf ihren Saxofonen musizieren. Weit gefehlt: Neben Coltrane am Tenor- und Sopransaxofon und Dolphy am Altsaxophon, auf der Klarinette und der Flöte wirkten auf „Evenings At The Village Gate“ niemand Geringere als Elvin Jones am Schlagzeug und McCoy Tyner am Klavier mit. Also einer DER modernen Jazz-Drummer überhaupt und einer der vielbeschäftigtsten, weil besten Jazzpianisten seiner Zeit. Beide arbeiteten mit Coltrane einige Jahre später unter anderem auf dessen Jahrtausendwerk „A Love Supreme“ zusammen. Und mit zahlreichen weiteren Jazzgrößen ebenso.
Was lernt uns das? Miles Davis und Charles Mingus hatten anscheinend keine Zeit oder Besseres zu tun, als hier mitzumachen. Äh, nein – eine Trompete taucht hier nicht auf und am Bass bekommen wir Art Davis und Reggie Workman zu hören. Ersterer spielte im Laufe seiner Karriere unter anderem mit Duke Ellington und Thelonius Monk; zweiterer mit Art Blakey, Freddie Hubbard, Max Roach und Wayne Shorter. Haaaach ja, der Jazz ist noch vor dem Country nicht nur die düsterste Musikrichtung mit den meisten berühmten Drogentoten, sondern auch die Heimat des Namedropping par Excellence, da hier quasi so gut wie jeder irgendwann mal mit jedem zusammen gespielt hat.
Aber genug davon: Was erwartet die Hörenden auf „Evenings At The Village Gate“ musikalisch? Nun, keine leichte Kost, aber auch nichts Unhörbares. Das Album beginnt mit „My Favorite Things“ aus dem Musical „The Sound Of Music“, das hier – wie alle fünf Stücke des Albums – rein instrumental dargeboten wird. Elvin Jones’ donnerndes und dennoch filigranes Schlagzeugspiel wird anfangs von Eric Dolphy auf einer hektischen Querflöte begleitet, nach knapp über sechseinhalb Minuten übernimmt Coltrane mit dem Sopransaxofon und erntet Szenenapplaus. Während der nächsten Minuten quietscht er sich dann in einen wahren Rausch hinein, Jones’ Schlagzeugspiel sorgt dafür, dass alles weiterhin groovt und irgendwie eine Ordnung hat. Knapp 16 Minuten dauert dieser wunderbare Lärm. „When The Lights Are Low“ beginnt langsamer, aber nicht wirklich ruhig. Auch hier sorgt Jones mit lautem Gepolter für das rhythmische Grundgerüst (der Bass wird von ihm größtenteils übertönt, ist aber dennoch wichtig und würde fehlen, wenn er nicht da wäre), Coltrane und Dolphy tröten um die Wette und im letzten Drittel des Stücks spielt sich McCoy Tyner mit einem wundervollen langen Klaviersolo in den Vordergrund, gegen Ende kommen wieder die Saxofone hinzu.
Das folgende „Impressions“ lebt vom Wechselspiel beider Saxofonisten, Jones hämmert noch mehr dagegen an und im Hintergrund bearbeitet Tyner das Klavier. Das Stück entwickelt eine ziemliche Härte und bleibt dennoch melodisch.
Und dann „Greensleeves“: Ich dachte, ich kennte das Stück, aber das Quintett belehrt mich eines Besseren: Zwischen Schlagzeuggehämmer und Saxofonimprovisation schimmert manchmal die vertraute Melodie auf dem Klavier hervor, ansonsten lässt auch Tyner der Improvisation freien Lauf und haut in die Tasten, als hätten sie eine solche Behandlung verdient. Das ist wirklich Krach auf allerhöchstem Niveau, trotz aller Virtuosität der einzelnen beteiligten Künstler mannschaftsdienlich auf den Punkt gebracht. Wobei man froh sein kann, dass es keine Gegenmannschaft gab, denn die hätte das hier nicht überlebt.
Auch auf dem abschließenden „Africa“ sind alle Instrumente eindeutig nicht auf „Betäuben“ eingestellt. Coltrane hatte das Stück kurz vor dieser Aufnahme auf LP veröffentlicht, und diese Live-Version haut dem Auditorium ein wahrhaftes Brett vor die Köpfe. Während der ersten gut vier Minuten spielen sich Coltrane und Dolphy auf ihren Holzblasinstrumenten die Bälle zu, während Tyner scheinbar ein nicht enden wollendes Schlagzeugsolo zum Besten gibt (dabei ist es nur eine sehr engagierte Rhythmusarbeit, die den Saxofonen nicht die Schau stiehlt, sondern sie mit aller zur Verfügung stehenden Vehemenz unterstützt). Am Ende dieses Parts gibt es Szenenapplaus (das Publikum ist also mit dem Dargebotenen nicht etwa überfordert, sondern feiert es enthusiastisch), Jones legt nochmal einige Härtegrade obendrauf, während McCoy Tyner mit seinem Klavier einsetzt, und tritt dann, ohne das Tempo zu vermindern, in den Hintergrund und überlässt dem Pianisten die Bühne. Sobald Tyner lauter wird, tut das auch Jones, und die beiden liefern sich über lange Minuten ein gleichberechtigtes Duell. Dazwischen irgendwann ein irres Basssolo mit zum Teil klirrenden Seiten, während die anderen Instrumente mit Ausnahme des Schlagzeugs die Luft anhalten – hier spielt sich wirklich etwas ab. Am Ende des Bassparts übernimmt Tyner mit einem hammerharten Solo, dass zunächst langsam beginnt und dann immer mehr Fahrt aufnimmt und dann von den Saxofonen in einem gemeinsamen Pandämonium eingefangen wird.
62 Jahre ist diese Aufnahme alt, und lässt die Zuhörenden sprachlos mit weit offenstehenden Mündern zurück. Hier glänzen nicht nur die einzelnen Virtuosen auf ihren jeweiligen Instrumenten, sondern auch alle zusammen als wunderbar funktionierende Band.