Von Matthias Bosenick (06.02.2023)
„Das Schneemädchen“, wie die Romanvorlage von Javier Castillo aus dem Jahre 2020 wörtlich besser übersetzt heißt, funktioniert wie so viele Plots dieser Zeit nur, wenn man Kopf und Realität ausschaltet und akzeptiert, dass sich die Figuren komplett unsinnig verhalten. Man muss bei diesem zum jammerigen Psychodrama aufgeblähten Minikrimi viel zu viel Schwachsinn akzeptieren, unter anderem, dass die Erzählstruktur jedwede auch nur hauchfein aufkeimende Spannung zunichtemacht. Dazu kommen banale Figuren, Längen um Längen und – eigentlich bis auf die Bilder und das Meer im Hintergrund nichts wirklich Gutes. „Das Mädchen im Schnee“ alias „The Snow Girl“ ist Zeitverschwendung.
Die Serie mit sechs Folgen à je einer Dreiviertelstunde – kommt einem alles deutlich länger vor! – beginnt noch klassisch wie ein Ermittlerding: Ein Mädchen verschwindet 2010 während eines Volksfestes in Málaga, es mehren sich Hinweise auf eine Entführung, Polizei und Lokalzeitung verfolgen Spuren. Amaya, so der Name des Mädchens im Schnee, das die ganze Serie über keinen Schnee zu sehen bekommen wird, hinterlässt sorgenvolle Eltern, die man auch als weinerlich bezeichnen darf. Inspectora Millán und Zeitungspraktikantin Miren gehen parallel auf die Jagd, kommen auf einen Freund der Familie, der mal wegen Verführung einer Minderjährigen saß, und scheitern an dessen Alibi. Plötzlich ist 2016 und Amaya immer noch vermisst. Miren bekommt eine VHS-Kassette (sehr geile Idee, keine digitalen Spuren und so) mit einem Beweis, dass das Mädchen noch lebt, und daher rührt dann auch der Schnee, nämlich vom Krisseln auf dem Videoband. In diesem Moment ist jedoch klar, dass jede weitere Rückblende ins Jahr 2010 ausschließlich Sachen erzählen kann, die nicht das Auffinden Amayas beinhalten, also keinerlei Spannung mehr aufbringen können. Noch wilder wird es, als dies im Jahre 2019 erneut passiert.
2016 sagt irgendwer, dass bei der Wiederaufnahme der Ermittlungen hoffentlich nicht wieder so viele Tote zu beklagen sein würden wie 2010. Rückblende 2010: Genau eine Person stirbt, okay, jede ist eine zu viel, aber da hat man nach so einer Rückblickansage doch andere Erwartungen. Dieser eine Tote stirbt dann aber auch kurios: Der Sohn des ersten Verdächtigen springt vom Balkon, während er von Miren interviewt wird, weil nämlich die Cops parallel das Kinderpornostudio finden, das er mit seinem Vater in der Wohnung der verstorbenen Oma mütterlicherseits betreibt. Dort ist alles so errichtet, als wäre man bereit für den nächsten Schuss, inklusive stapelweise CDs mit Filmen und dem letzten kompromittierenden Clip noch in der aufgestellten Kamera. Klar: Wenn ich verdächtigt werde, ein Kind entführt zu haben, lasse ich alles so stehen, und als selbst noch minderjähriger Sohn lasse ich natürlich die Zeitung in die Hauptwohnung, obwohl ich sie erst wegschicken wollte, und springe dann vom Balkon, nachdem ich die Info über den Tatortfund per Anruf bekomme. Ja, Menschen sind dumm, aber Drehbücher auch.
Abgesehen von der Entführung des Kindes selbst ist dies der erste überraschende Moment der Serie. Der zweite erfolgt, nachdem Miren einen weiteren verdächtigen, aber laufengelassenen, wegen Pädophilie angeklagten Typen zur Rede stellt und erfährt, dass der mit Amaya zwar nix am Hut hat, aber mit einem Clip, der zeigt, wie Miren selbst 2008 am Strand vergewaltigt wurde. Daran hat die inzwischen bei der Zeitung fest angestellte Journalistin ohnehin stark zu knabbern und das wiederum lastet sie der ermittelnden Inspektorin auch immer noch an, weshalb sie mit der Polizei nicht zusammenarbeitet. Okay, unerwartet, dass die sie betreffende Straftat als Clip in illegalen Pornoforen kursiert, an denen auch noch der Vater des suizidalen Kinderpornobengels beteiligt ist. Unerwartet und bekloppt aber auch, dass Miren dem Typen 6000 Euro in die Hand drückt und ihn sie natürlich später in Verlegenheit bringende Fotos von sich machen lässt, für eine Nutzerliste, die ihr sicherlich auch ein Hacker für deutlich weniger Einsatz hätte besorgen können.
Klingt nach viel Stoff? Wir sind aber bereits in Episode 4. Nächstes Highlight ist, dass Miren beim Vergleich der Videospuren auf die Idee kommt, wer einen neuen Spurkopf für sein Gerät gekauft haben konnte – Modell und Hersteller ermittelte die Polizei anhand der VHS-Spuren. Sie liegt richtig, und dann kommt eine komplett redundante Folge, in der man die Hintergründe und die Erlebnisse Amayas während der nun neun Jahre seit der Entführung verfolgen muss; offen bleibt, warum ein 15jähriges Teeniemädchen mit Zugang zu Fernsehen keinen Fluchtgedanken aufkeimen lässt. Also: Psychopathische Else und unterwürfiger Gatte auf abgelegenem Hof, Kinderwunschklinikbehandlung gescheitert, Bezug zu Amayas Mutter, die den Kinderwunsch dort nicht erfüllen konnte, da nimmt man deren Kind natürlich mit und überzeugt auch den Gatten davon, dass das so okay ist, die Psycho-Else schüchtert das Kind fortan ein und nennt es Julia. Dann die dritte richtige Überraschung: Die Entführerin ballert den Bänker ab, der die Hypothekenzahlungen einfordert. Uh! Und dann: So detailliert, wie die Serie noch den kleinsten Pups ausufernd erklärt, wie zum Beispiel diese ganze Episode, wundert man sich, dass man kein Stück erfährt, wie das Paar die Leiche und deren Auto entsorgt. Vierte Überraschung: Der Gatte der durchgeschossenen Entführerin wird vom Auto überfahren. Haha! Da macht es sich das Drehbuch einmal mehr sehr einfach: Sämtliche Täter ziehen sich durch Ableben aus der Verantwortung, die Psychopathin per Suizid später ebenfalls.
Auch die beiden Pädos, die im Wohnwagen des einen verbrennen, nachdem sie jemand anonym im Internet denunzierte. Nicht schlimm, finden alle, und zucken mit den Schultern. Nicht ganz, Eduardo, der sympathisch zwischen Frank Black aus „Millennium“ und jeder späten Clint-Eastwood-Figur angesiedelte väterliche Journalisten-Freund Mirens, entdeckt die belastenden Fotos auf ihrer Kamera, die sie natürlich im Auto liegen lässt. Klar, wenn ich anonym Fotos irgendwo veröffentliche, lasse ich die natürlich auf der SD-Karte, anstatt sie nach dem Hochladen zu löschen. Eduardo jedenfalls offenbart Miren am Ende, dass er die Karte stiebitzte, was sie nicht mal feststellte, obwohl sie beim Observieren der Entführerin – nachdem diese sie trotz erster Ablehnung doch in ihr Haus ließ und damit erst Verdachtsmomente ermöglichte, wie spannend, und wie dumm konstruiert – die Kamera verwendete. Das Drehbuch hat da noch mehr Lücken im Köcher, denn aus unerfindlichen Gründen macht Miren nicht nur keine Fotos vom Haus, wobei ihr das Fehlen der SD-Karte spätestens aufgefallen wäre, sondern senkt das Gerät auch noch kurz vor dem Auftreten der verschwundenen Amaya ab, sodass sie sie erst im vorbeifahrenden Auto erspäht und erst gar nicht in Verlegenheit gekommen wäre, das Fehlen der Karte zu bemerken, weil der Auslöser nicht auslöst. Gotteswilln. Als Krönchen fasst Eduardo die komplette fünfte Folge später in nur einem schmalen Satz zusammen, qed.
Man hätte sich so viel sparen können, vornehmlich das ganze quälende Gejammer. Alle haben irgendwelche Probleme, sogar die Inspektorin, und heulen herum, was das Zeug hält. Was aber an Thrillern, Krimis und dergleichen spannend sein kann, sind Ermittlungen, das Begleiten der Erkenntnisse. Solche Szenen bietet die Serie tatsächlich einige wenige an, inklusive dem klischeehaften Karten-Fotos-Bindfäden-Tableau an der Wand, aber nichts führt zu etwas, sonst würde es ja keine neun Jahre dauern, das Blag zu finden. Zudem ist es interessant, dass sich über die Jahre weder bei der Zeitung noch bei der Polizei personell etwas ändert, auch nicht vom Aussehen her. Nur die Eltern von Amaya sind inzwischen getrennt. Und Miren hat ein sichereres Auftreten, wenngleich kein sympathisches: Als Identifikationsfigur ist sie zu blass, irgendwo zwischen Koks und Valium, sie weiß, was sie will, hat aber keine Kontur. Unglaubwürdig ist zudem, dass sie als tolle Journalistin gefeiert wird, wo doch bis auf ganz wenige erhellende Erkenntnisse ihr Hauptverdienst ist, zweimal anstelle der Eltern VHS-Kassetten zugeschickt bekommen zu haben.
Ebenso konturlos ist die Inspektorin, die als notwendige Staffage durch die Kulissen stolpert und damit bestätigt, dass Mirens Kritik an ihrer Arbeit berechtigt ist, denn schließlich kommt sie ja zu keinen greifbaren Ermittlungsergebnissen. Und das, obwohl bereits wenige Sekunden nach Amayas Verschwinden das ganze Land für neun Jahre in Aufruhr ist, als wäre sonst auf der Welt nix los. So nahe wie den Spaniern in der Serie geht dem Zuschauer die ganze Chose aber nicht, maximal Mirens Leid als Opfer der bis zuletzt unaufgeklärt bleibenden Vergewaltigung, stets ein beschissenes Thema. Und das schlachten die Serienmacher aus, denn als Finale erhält Miren einen Hinweis auf Staffel 2, die sich vermutlich an „El juego de alma“ („Das Spiel der Seele“, Netflix-Titel vermutlich „Die Seele im Spiel“) orientieren wird, der Romanfortsetzung innerhalb der bisher dreibändigen Miren-Triggs-Buchreihe. Was leider vielmehr vermuten lässt, nicht das Mädchen, sondern die Autoren von so einem Quark befänden sich in zu viel Schnee.