Von Guido Dörheide (22.01.2023)
Disclaimer: In diesem Artikel werden zwei verdiente Honoratioren dieser unserer Löwenstadt als „Pissnelken“ bezeichnet. Ich distanziere mich hiermit in aller Form von meiner selbstgewählten Formulierung und ersetze sie durch „schmierige Halunken“. Als gebürtiger Gifhorner darf ich das, muss ich das sogar, ich bin quasi dazu verpflichtet. Aber nun erstmal mein Artikel, den ich für alle Leute schreibe, die heute nicht dabei sein konnten und vor allem für meine einzigartige wunderbare Liebste, die heute aus beruflichen Gründen nicht nach Braunschweig kommen konnte:
Wir alle kennen diese ziemlich braunen Schilder an der Autobahn (Wieso eigentlich ausgerechnet diese Farbe für Hinweisschilder an deutschen Autobahnen? Honi soit qui mal y pense…Dr. GH aus GF, ick hör Dir trapsen…): „Hornburg – Historische Fach-Werkstatt“, „Gifhorn – Mühlen minus Freilichtmuseum“ (jahaa, so ein ähnliches Schild gibt es an der A2, obwohl meine Heimatstadt nun wirklich an keiner Autobahn liegt, nicht mal an der A39), „Wolfsburg, Autostadt“ oder eben auch „Wolfenbüttel, Lessingstadt“. Darüber, warum letztgenanntes Schild seine Berechtigung hat, klärt Hardy Crueger einmal pro Jahr in seiner Lessing-Lesung mit dem Titel „Einfach G.E.L.“ auf. Normalerweise findet diese Veranstaltung (an immer anderen Orten in und um BS/WF) an Lessings Todestag, dem 15. Februar, statt; in diesem Jahr bestellte Hardy Crueger sein Auditorium stattdessen an Lessings Geburtstag, dem 22. Januar, in die Braunschweigische KaufBar ein.
Es ist Lessings 294. Geburtstag, also deutlich mehr als bei „Dinner For One“, ohne Tigerkopf, trotzdem tut der Literat sein wirklich Bestes, begrüßt seine Gäste auf Französisch, was zu Lessings Lebzeiten noch das war, was Englisch heute ist, fragt einige Lessingkenntnisse ab (Nathan der übliche verdächtige Weise zum Beispiel) und stellt dann die berechtigte Frage, wer denn schon selber wüsste, wer er sei. Um dann kompetent und unterhaltsam darüber aufzuklären, wer Lessing war und warum Wolfenbüttel eine Lessingstadt ist. Und darüber, dass Gotthold Ephraims Mama eigentlich immer schwanger war und sein Vater Pastor in Kamenz, Sachsen, wo G.E.L. am 22. Jänner 1729 zur Welt kam.
Als es um die Entfernung zwischen Lessings Geburtsstadt Kamenz und der sächsischen Porzellanmetropole Meißen geht, verheddert sich der Protagonist äußerst unterhaltsam im metrischen System und dann fragt er im Publikum ab, ob man noch Tugenden kenne. Mir fallen zuerst Völlerei, Habgier und Wollust ein, aber schnell stellt sich heraus, dass diese hier nicht gemeint sind. Alsdann erwähnt Crueger, dass der junge Gotthold Ephraim sich anschickte, Lustspiele zu schreiben, was seinem Vater sichtlich missfiel, da der junge G.E. dabei die falschen Tugenden predigte. Also die vorgenannten wahrscheinlich, und zuallererst die Drittgenannte. Hernach rezitiert Crueger ein Gedicht Lessings aus dieser Zeit und seitdem vermute ich, dass die Erzählung von Claudia und ihrem Schäferhund nicht von den Ärzten aus Berlin (aus Berlin!) ausgedacht wurde. Ganz so weit liegen Lessing und der Rest der Menschheit anscheinend doch nicht auseinander, wenn es um Tugenden geht. Was sich manifestiert in Lessings Ausspruch „Wer wird an die Gesundheit denken, wenn man die Gläser leeren will?“ Zweifelsohne, in Lessing steckt mehr Rock‘n‘Roll, als man uns weiland an der humanistischen Bildungsanstalt lehren wollte. Lessings Vater schimpfte darob „wie ein Rohrspatz“, und wer will es ihm verdenken?
Lessing fand danach sein Glück im Glücksspiel und verfasste Fabeln. Eine davon handelte von einer Gans, die gerne ein Schwan sein wollte, aber nicht konnte. Was mich daran erinnerte, dass meine jüngste Tochter einst in Südtirol vor einem Springbrunnen mit einer Gänse-Statue andachtsvoll ausrief „Eine Langhals-Ente!“ Aber das nur – gewiefte Krautnick-Lesende ahnen – am Rande.
Crueger erzählt also munter aus Lessings Leben, rezitiert zwischendurch dessen Gedichte und Fabeln und bekommt dafür – apselut verdient – Applaus. Und Lessings Lebensgeschichte reißt die Zuhörenden mit: Gotthold spielt, verliert, macht Schulden, führt das von ihm in Hamburg geleitete Theater nach drei Jahren in die Pleite und sich selbst auch. Privatinsolvenz. Nur, dass es die damals noch nicht gab. Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, verliebt sich Lessing in Eva König, die Frau seines Freundes Engelbert, der in Hamburg wohnt und eine Fabrik in Wien leitet und dann plötzlich und unerwartet stirbt. Um die Familie ernähren zu können, nimmt G.E.L. dann eine Stelle als Büchereipräsident in Südostniedersachsen an: Herzog Karl Wilhelm Ferdinand, dessen Standbild, wie Hardy Crueger unnachahmlich in Worte fasst „vor diesem lächerlichen Kaufmannsschloss steht, hoch zu Ross“, nimmt ihn in seine Dienste – offenbar durch einen Headhunter auf Lessings Fähigkeiten aufmerksam gemacht – und macht ihn zum Chef der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel. Wie lange das Pferd gelebt hat, auf dem KWF vor der Schlossattrappe sitzt, ist leider nicht überliefert (meine jüngste Tochter fragte danach und ich konnte die Frage nicht beantworten).
In der Bibliothek in der südostniedersächsischen Provinz, die zu Lessings Zeiten als Achtes Weltwunder gehandelt wurde, war „das gesamte Wissen der Welt“ versammelt. Man gut also, dass nicht irgendwelche Pissnelken wie sagen wir mal Wolfgang Laczny oder Dr. Gert Hoffmann dazu auserkoren wurden, den Laden zu leiten, sondern G.E. Lessing. Dortselbst suchte Lessing nach jemandem, der ihn brauchte. Und wurde fündig: Die Menschheit brauchte ihn, wegen der Tugenden. Zu tun hatte Lessing in der Bibliothek nichts, außer dem, was er selbst machen wollte. Lessing postulierte, er wolle „niemandes Herr noch Knecht“ sein, praktizierte das mit Erfolg und Eva König verstand das. Sie scheint mir eine ziemlich tolle Person zu sein.
Lessing schrieb dann „Emilia Galotti“, noch ein üblicher Verdächtiger aus dem Deutschunterricht der ländlichen humanistischen Bildungsanstalt, die in Braunschweig erfolgreich uraufgeführt wurde. Allerdings von den Schauspielenden gespielt „so abgeschmackt, als müsste man sie mit Nasenstübern vom Theater schicken.“ Klasse Rezension, könnte von mir sein.
Mit seinen Theaterstücken verdiente Lessing nur wenig Geld, da diese aufgeführt wurden, ohne ihn um Erlaubnis dafür gefragt zu haben oder ihn zu bezahlen, außerdem kursierten Raubkopien seiner Stücke, für die er ebenfalls kein Geld sah. Mit den „Fragmenten des wolfenbüttelschen Ungenannten“, die Lessing für seinen Freund Hermann Samuel Reimarus (der übrigens Hamburger war und kein Wolfenbütteler) veröffentlichte, trat er dann die bedeutendste theologische Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts, den „Fragmentenstreit“, los. Der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze war dabei sein klerikaler Gegenspieler, Lessing verlor im Verlaufe des Streits seine Zensurfreiheit und rächte sich mit seinem bekanntesten Werk „Nathan der Weise“, einem Stück für zukünftige Generationen. Das Teil kennt heutzutage fast jeder, wer dagegen kennt ohne Deutsch-Leistungskurs (wenn nicht nur Woyzeck gelehrt wurde) noch Goeze? Unendliche Briefe schrieben Lessing und Goeze damals hin und her, Hardy Crueger meint dazu in seiner Funktion als Lessings Alter Ego: „Damals hatten wir noch kein Netflix, da hatten wir abends Zeit, Briefe zu schreiben.“
Im Anschluss beschreibt Crueger Lessings glücklichstes Jahr: 1777. Eva und die Kinder ziehen zu ihm nach Wolfenbüttel, Eva wird mit 41 Jahren schwanger (Lessings erstes Kind, mit 48), das Haus wird fertiggestellt und dann: Am 25.12. wird Lessings Sohn Traugott – mit Hilfe der damals vollkommen neuartigen Geburtszange – geboren, Eva erleidet während der Geburt unvorstellbare Qualen, Traugott stirbt nach einer Woche und Eva kurz nach ihm. „Ein Tag hatte ihm gereicht, um zu verstehen, was hier los ist.“ Schöne Scheiße. Anmerkung des Verfassers.
Lessing, der nach eigenen Worten „gelehrte Landstürzer“, lebt noch einige wenige Jahre weiter, um so viel zu schaffen, wie nur geht. „Emilia Galotti“ erschien schon 1772, „Miss Sara Sampson“ sogar bereits 1755 (das erste Trauerspiel in deutscher Sprache, meine Damen und Herren, mehr, wirklich sehr viel mehr als kongenial in die heutige Zeit überführt durch Hardy Cruegers „Der Mord an Sara Sampson“, zu erstehen in der Buchhandlung Benno Goeritz in Braunschweig), und „Nathan der Weise“ (ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen) letztendlich 1779.
Lessing starb 1781 in Braunschweig, das ist ein Jahr, das sich die Braunschweiger:innen mal außer dem Scheiß 1967 gefälligst hinter die Ohren schreiben lassen sollten. Er hat so viele wunderbare Werke hinterlassen, und auch schöne Zitate: „Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt.“ Hardy Crueger hat in diesem Zusammenhang das Internet erwähnt, und so ziemlich das ganze Publikum zuckte zusammen und musste dann lachen.
Und dann rezitierte Crueger Lessings wohl größtes Zitat, aus einem seiner Briefe an Moses Mendelssohn: „Ich glaube, der ist der größte Geck, der die größte Fertigkeit im Bewundern hat; so wie ohne Zweifel derjenige der beste Mensch ist, der die größte Fertigkeit im Mitleiden hat.“ Hammer! Und das hier, finde ich, hat nichts mit selbsternannter Hypersensibilität zu tun, sondern mit der reinen Fähigkeit zum Mitleiden. Danke, Lessing, und danke, Hardy für einen nicht nur wunderschönen, sondern auch lehrreichen Sonntagnachmittag!
Den Text „Einfach G.E.L.“ finden Sie auch zum Lesen am Ende von Hardy Cruegers Buch „Der Mord an Sara Sampson“. In dem Buch erzählt Crueger Lessings Stück „Miss Sara Sampson“ in moderner Sprache nach, was nicht ohne zahlreiche überwältigende Zitate des Ursprungswerkes abgeht (inkl. meiner Lieblingsstelle in der Literatur vor HC: „Machen Sie mich zu Gott, und wiederholen Sie dann Ihre Forderung!“) und hiermit auf das Herzlichste zum Lesen anempfohlen wird.
Hinweis von Hardy Crueger: Die Lesung anlässlich Lessings Geburtstag wurde finanziert vom Raabehaus Literaturzentrum Braunschweig und war somit für die Zuhörenden komplett kostenfrei. Ergänzung von Guido Dörheide: … gewesen.