Von Matthias Bosenick (27.10.2022)
Wieder so ein Vinyl, das ewig nach der Online-Veröffentlichung der entsprechenden Musik auf sich warten lässt. Und das Warten lohnt sich, zum Glück: „Lord Of Chaos“ ist typisch moderne Killing Joke, treibend, riffig, post-heavy, mit einnehmend warmer hymnischer Melodie und verhalten geschrienem Refrain, dazu ein Bonus-Track und zwei Remixe, Dub, Electro, ebenfalls typisch Killing Joke. Fügt sich nahtlos ins Oeuvre ein, was die alten Männer hier machen, sieben Jahre nach dem letzten Studioalbum „Pylon“.
„Lord Of Chaos“ klingt wie Killing Joke seit den mittleren Neunzigern, heavy mit Anleihen an den konkreten Metal, nach vorn gehend. Das zweite Stück hingegen, „Total“, hat vielmehr Ähnlichkeiten mit den Killing Joke der späteren Achtziger, mit harmonischem Keyboardteppich unter dezenter Rhythmusgitarre und poppigem Gesang, bis der Refrain die Hörenden wieder daran erinnert, dass man es hier ja mit weiterentwickelten Killing Joke zu tun hat. Mithin der beste Spagat zwischen einst und jetzt, inklusive Gitarrensolo, das man so auch zu Beginn der Achtziger gehört bekommen haben könnte, mit dem typischen hohen Sound von Geordie Walkers Gibson-E-Gitarre.
Neben Walker und Bandchef Jaz Coleman sind auch die beiden anderen Gründungsmitglieder Youth und Big Paul Ferguson weiterhin dabei, seit 2008 konstant, also seitdem länger als zu Beginn der Band 1979, als es das Quartett gerade mal vier Jahre und drei Alben miteinander aushielt. Und über die Jahre erheblich weiterentwickelt, sowohl jeder für sich als auch als Band: Killing Joke 2022 sind anders als 1979, auch wenn die Wurzeln nach wie vor durchschimmern. Und die Livesets sogar die Hits aus der Zeit zwischen 1983 und 2008 beinhalten, die also nicht mit allen vier heutigen Musikern entstanden.
Der Song „Lord Of Chaos“ thematisiert laut Coleman das „Systemversagen“ dieser Tage, in denen künstliche Intelligenzen das Weltgeschehen katastrophal verschlechtern. Am Puls der Zeit, der Gute, ein Mahner seit ehedem. Mit Deflore empfahl er noch vor drei Jahren „Party In The Chaos“, auf der „Pandemonium“ thematisierten Killing Joke die „Mathematics Of Chaos“, nun also der „Lord Of Chaos“, bei dessen Nennung man zunächst gedanklich andere Wege einschlägt, als Coleman es erläutert, schließlich ist er ein Mystiker und Okkultist, der seine Weltanschauung in Richtung Permakultur, freie Energie und Individualismus offen von den Gedanken solcher Spinner wie Aleister Crowley ableitet – aber zugunsten einer verbesserten Gesellschaft interpretiert, nicht zum egomanischen Individualismus, wie es die Beschwörer eines „Lord Of Chaos“ vornehmen würden. Und obwohl er sich selbst als unpolitisch bezeichnet, tragen seine Botschaften politischen Sprengstoff, eben genau wie „Lord Of Chaos“. Coleman muss ganz schön durchgeknallt sein – aber auch sympathisch.
Die Kombination von Techno und Killing Joke existiert seit 1994, als Youth, der alte Goa-Produzent, aus „Jana“ mit dem „Dragonfly Mix“, benannt nach dem Goa-Trance-Label, einen entsprechenden Drogentanztrack machte, der auch Leute mit Techno versöhnte, die damit bis dahin eher Schwierigkeiten hatten. Nach Goa klingt die neue Version von „Big Buzz“ indes nicht, die Nick Evans und Tom Dalgety für die EP anfertigten, eher nach Uptempo-Zwei-Schritte-vor-und-drei-zurück-Post-Industrialrock für die dem Pop zugeneigte EBM-Tanzfläche. Nach Goa kam für Youth ja vorrangig der Dub, und in einen solchen toastete er abschließend auch „Delete“, zusätzlich zu einem chilligen und trotzdem treibenden Drum-And-Bass-Rhythmus.
Das Vinyl der EP ist unterschiedlich bunt und die Mucke ist unterschiedlich geil. Also wieder mal alles, was man von den Post-Punk-Helden erwarten kann, und eins on top obendrauf. Ob dies der Vorbote eines neuen Albums sein wird oder nur ein One-Off, ist derweil noch offen, aber dass es ein neues Album geben wird, ist gesetzt – „as long as we haven’s been nuked by then“, sagt Coleman in einem Interview mit Metalexpressradio. Und: „Then again, I’ve been saying this since 1980 and we’re still here.“ Sofern nicht verschollen in Island oder der Sahara. Sofort kaufen sollte man indes keine Alben der Band: Nachdem „Pylon“ im vergangenen Jahr eine Runderneuerung inklusive der vorher fehlenden Originalversion von „Snakedance“ erhielt, gibt es jetzt auch „Hosannas From The Basements Of Hell“ mit drei Liedern mehr. Uff.