Von Matthias Bosenick (18.10.2022)
Schon wieder locken uns The Young Gods auf das Feld der modernen Kunst, keine 31 Jahre nach „Play Kurt Weill“: Mit Terry Rileys „In C“ nehmen sich die Schweizer ein Standardwerk der Minimal Music vor, 1964 komponiert, seitdem mehrfach aufgeführt und aufgenommen, jetzt aber von einer Band, die den US-Industrial aus der Taufe hob, mit dem heavy Mix aus Gitarre und Keyboard, den sie selbst längst ablegten und hier auch kaum zur Anwendung bringen. Typisch für Minimal Music sind Wiederholung, Monotonie, scheinbar willkürliche Notentupfer, rudimentäre, bisweilen verspielte Melodien, tranceartige Passagen, und ja, all das bekommt man in den 53 von Riley „Phrasen“ genannten Sequenzen auch von den Young Gods, dazu nach gut der Hälfte einen knappen Einblick in den Krach, zu dem sie ebenfalls in der Lage sind. Erstaunlich genug, wie futuristisch ein 1964 komponiertes Stück Musik 2022 noch klingen kann. Live im Studio eingespielt, übrigens.
Den Genuss an unkonventioneller Schönheit kann man sich auch durchaus antrainieren. Sicherlich ist Minimal Music beim Erstkontakt für manche Hörende unzugänglich, weil sie in weder in der Klassik noch im Pop vertraue Strukturen fällt, und so ist das eben mit erweiterten Horizonten, lässt man sich darauf ein, bekommt man die Option, Neues für sich zu entdecken. Dieses Neue nun ist mittlerweile auch schon ein halbes Jahrhundert alt, diese Minimal Music, die grob aus der Klassik resultiert und vieles vorwegnimmt, was 20 Jahre später der Synthiepop mit Sequenzern umsetzt, also mit Mitteln, die für sich genommen den meisten Radiohörern gar nicht so fremd sind, in ihrer Anwendung indes schon. Etwa durch Leute, die eine repetetive elektronische Musik fabrizieren, die man als Industrial bezeichnen kann, Industrial europäischer Prägung kam ja ohne die Gitarren aus, die die davon inspirierten Musiker aus Übersee so gern mit diesem Begriff verbinden. The Young Gods, die Schweizer, die ihnen zum Vorbild dienten, gehören zu den Ausnahmen, die ihre Metalgitarren indes sampeln und mit den Gitarren Töne erzeugen, die nach Synthies klingen.
Die Young Gods nun gehen „In C“ anders an als die früheren Interpreten: Bei ihnen erklingt zuerst ein Drumbeat, den gab’s sonst in dem Stück nicht. Ansonsten hangeln sie sich an den Partituren Rileys entlang, nur eben mit ihren eigenen Mitteln, mit klaren bis harschen Synthiesounds, die sie analog zur Vorlage um sich kreisen lassen, mit Klingklang, mit Gitarrensamples, die nach einer Zeit der Gewöhnung an das beinahe ambientartige Setting plötzlich einmalig über die Hörenden hereinbrechen und sie daran erinnern, mit wem sie es hier zu tun haben, mit einem echten Schlagzeug, das agil und organisch Fills und Patterns hinter die Phrasen legt, mit einer Strenge, einem Tempo, einer unterschwelligen Dunkelheit, die das vornehmlich beinahe fröhliche „In C“ in eine schwärzere Kunstrichtung zieht, und mit einer fesselnden Dynamik, die dem Umstand Folge leistet, dass hier eine dreiköpfige – nun – Rockband zugange ist und kein Klassikensemble von der Größe der Bewohnerschaft eines mittleren Heidedorfes. Faszinierend, wie The Young Gods die Partitur interpretieren.
Interessant ist auch, wie sie die Partitur strukturieren: Aus den 53 Phrasen machen sie drei LP-Seiten, die erste mit 21 Phrasen, die zweite bis Phrase 35 und die dritte mit dem Rest, dazu auf Seite vier die Phrasen 1 bis 26 in einer viertelstündigen Synthesizer-Version, ausschließlich dargeboten von Franz Treichler, auf dessen charakterstarke Stimme man auf diesem Album konzeptbedingt leider verzichten muss (und der hier mit seinem Solo nicht an Wendy Carlos‘ „Switched-On Bach“ erinnert). Mit ihm im Studio sind Elektroniker Cesare Pizzi, 1988 ausgestiegenes Gründungsmitglied und seit zehn Jahren wieder fest an Bord, und Schlagzeuger Bernard Trontin, der den Platz seit 1997 innehat. Die D-Seite ist übrigens weder auf der beigelegten CD noch in den Streams und Downloads enthalten – und die digitalen Darreichungsformen haben ihrerseits eine eigene Struktur, sie sind nämlich in neun Tracks unterteilt, also weder in die 53 der Partitur noch in die drei der LP-Seiten.
In 53 Abschnitte kann man „In C“ auch gar nicht klar unterteilen, weil das Konzept vorsieht, dass die darbietenden Ensembles innerhalb der Instrumentengattungen die Position auf dem Notenblatt verschleppen dürfen, bis maximal zwei Phrasen, das gesamte Stück sozusagen je nach Interpretation unterschiedlich ineinanderfließt und entsprechend unterschiedlich lang dauert. Lediglich das geachtelte C in unterschiedlichen Oktaven als Taktvorgabe soll festgelegt sein, daher der Titel. Die Young Gods nun flirren ihrerseits recht frei über die Partitur und generieren ein Hörerlebnis mit wechselnden Stimmungen, Intensitäten, Genres. Alles fließt und bewegt sich.
Und so weit weg von dem, womit man The Young Gods seit 1985 verbindet, ist „in C“ auch wieder gar nicht. Experimentelles Ambient etwa zelebrierten sie bereits ausführlich auf „Heaven Deconstruction“ 1996 und „Music For Artificial Clouds“ 2004, und auch die Studioalben folgen seit Jahren nicht mehr dem ursprünglichen dem Rock nahen elektronischen Samplemetal, sondern schweben freier, luftiger, drogeninduzierter über den dynamischen Welten, die sie gestalten, luzid, treibend, schamanisch, eruptiv, chillig, und genau so setzen sie auch „In C“ um, nur mit einer näher am Ambient gelegenen Grundausrichtung, die sie kurz vor Schluss vortrefflich in wilden Galopp münden lassen.
Das Cover ist schick! Da zerstückeln die Young Gods ihr eigenes Logo mit den drei Strichmännchen und platzieren die Überreste wie im Tic Tac Toe. Hier gewinnen die Leerstellen, was in der Musik nicht zutrifft – „In C“ ist eine typische, weil einmal mehr untypische Platte von den Young Gods. Und sich Terry Riley zu widmen, liegt gar nicht so fern: Dessen nahmen sich auch schon Artverwandte wie das Kronos Quartett, John Cale und John Zorn an, da sind die Schweizer also in bester Gesellschaft. Was kann man folgern? Das ist Kunst! Einmal mehr im Universum der Young Gods.