Von Guido Dörheide (05.05.2022)
Während ich weiland in den 1990er Jahren des vergangenen Jahrtausends jede Person unter Zuhilfenahme einer Wasserwaage aus meinem Wohnviertel verjagt hätte, der mir tanzbare Popmusik schmackhaft zu machen versucht hätte (einzige Ausnahme: „Groove Is In The Heart“ von Deee-Lite), habe ich mittlerweile nicht nur meinen Frieden mit dem Genre Dance-Pop gemacht, sondern einige meiner aktuellen Lieblingskünstlerinnen wie Dua Lipa, Lady Gaga oder Charli XCX sind in eben genau diesem Disco-Bereich unterwegs und bedienen sich reichlich 80er- und 90er-Jahre-Referenzen – and I love it. Nun also das zweite Album von Sofi Tukker – „WET TENNIS“. Was ist nasses Tennis? Ist normales Tennis – also beispielsweise das von Becker und Agassi und Lendl und Graf – trocken? Das von McEnroe war es zumindest nicht, da hatte ich immer Lachtränen in den Augen. Gibt es auch „moist tennis“? Björn Borg vielleicht? Fragen über Fragen.
Manchmal hilft das rhythmische Betrachten des Albumcovers: Weil da steht‘s drauf, wenn auch hochkant: WET TENNIS ist ein Akronym für „When everyone tries to evolve nothing negative is safe“. Wow. Das ist sowohl schlau als auch schön. Und genau das ist das ganze Album: Schön, tanzbar, zuweilen melancholisch, voller wunderbarer Ideen, musikalisch abwechslungsreich und sehr sehr gut gemacht. Da ist zunächst die Stimme des einen Teils des Bandnamens: Sophie Hawley-Weld, gebürtig aus FFM, aber in Kanada und Atlanta, Georgia aufgewachsen, hat eine wirklich supertolle, manchmal recht schön hohe Stimme, die manchmal die Zeilen nur so hinhaucht, manchmal schön traurig klingt (z.B. auf „Interlude“), egal was sie macht, es passt immer. Die andere Hälfte des Bandnames ist der ehemalige Basketballer Tucker Halpern aus Massachussetts, der aus gesundheitlichen Gründen irgendwann auf Schallplattenunterhalter umgeschult hat.
Sofi Tukker haben im vorletzten Jahr „911“ von Lady Gaga geremixt. Ein Song, der mich angesichts des Inhalts sehr anrührt, und dann noch sowas gekonnt in Szene gesetzt – den ersten Pluspunkt haben Sofi Tukker bei mir dafür schon mal. Davor das 2018er Debütalbum „Treehouse“ mit der vorweggeschickten Vorabsingle „Drinkee“ mit diesem wundervoll-verwirrtem portugiesischen Text. Hammer.
Die Songs auf „WET TENNIS“ bauen – wie auch der bisherige Output der Band – auf schön trockenen House-Beats auf und vereinen melancholischen Pop mit haufenweise Latin- und Afro-Einflüssen, sind nie langweilig, gehen in die Beine wie Sau, und wenn einem gerade mal nicht nach Tanzen ist, kann man sie – nicht allein wegen des großartigen Gesangs – auch super auf der Chaiselongue nebenbei genießen. Ich will nicht auf alle Songs eingehen, daher hier ein Schnelldurchlauf durch einige der Highlights des an Highlights nicht eben armen Albums:
Zunächst „Kakee“ – mit einem wundervoll durchgeknallten Text auf portugiesisch, und außerdem reißt der Song auch gleich musikalisch unglaublich mit – besser kann man ein Album nicht eröffnen. Auf „Original Sin“ wird es dann etwas monotoner, Sophie und Tucker wechseln sich beim Singen ab, unterhalten sich darüber, dass mit ihnen beiden etwas nicht stimmt, und fragen sich am Ende, was zur Hölle eine Erbsünde überhaupt sein möge. „Summer In New York“ baut komplett auf „Tom‘s Diner“ von Suzanne Vega auf – mehr New York als SV geht meines Erachtens kaum – und der Song klaut nicht etwa dreist beim Original, sondern baut dieses zu etwas Anderem, Schönen, Tanzbaren um. „Larry Bird“, der männliche Gesang (er sagt immer nur „Larry Bird“) orientiert sich ganz offensichtlich an Dieter Meier – gefällt mir. Der Beat hämmert schön vor sich hin und beschwört zusammen mit den Synths vor den Augen der/des Hörenden Stroboskope herauf. Im Hintergrund wieder afrikanische Gesänge – super, das! Eines der Hammerhighlights des Albums ist „Mon Cheri“: Der Song baut sich um ein simples, total schönes Gitarrenriff auf, nimmt einen dann mit dem in französischer Sprache und afrikanischer Melodie und Rhythmik vorgetragenen Text gefangen, wird gesungen vom Duo Amadou & Mariam aus Mali, und ab Minute 01:25 baut sich im Hintergrund ein elektronisches Pandemonium auf, das ab 02:50 den Song komplett an sich reißt, aber vom Gesang des Duos aus Mali dann doch im Zaum gehalten wird – apseluter Reinhörtipp! Das anschließende „Freak“ begeistert mit einem schnellen Beat und dem sich abwechselnden Gesang von Hawley-Weld und Halpern, die sich die Zeilen wahrhaft um die Ohren schlagen – zwischendurch soliert eine nach den 70ern klingende Gitarre, der Beat ballert – die Party neigt sich dem Ende, aber keiner will wirklich schon jetzt nach Hause, das ist mein Bauchgefühl beim Hören des Songs. Dann zum Abschluss „What A Wonderful World“ – ja, tatsächlich ein Cover des Louis-Armstrong-Klassikers. Ein kleiner Schritt für die Menschheit – ein großartiger Abschluss für ein großartiges Album. Sophie Hawley-Weld singt das Teil supergefühlvoll, der Beat klappert, die Gitarre holt alles raus, was drin ist (Gibt es eigentlich Mariachi-Gitarren? An einigen Stellen hätte ich Trompeten erwartet, aber ehrlich – das geht auch mit Gitarren!), am Ende haucht Sophie noch ein „What a wonderful World“ hin, Album zuende.
„WET TENNIS“ ist ein mehr als nur würdiger Nachfolger des Debütalbums „Treehouse“ aus dem Jahr 2018, sondern wahrhaft GANZ GROSSES TENNIS, egal ob trocken, feucht oder nass. Und darüber hinaus haben Sofi Tukker einen wirklichen Riesenbatzen EPs und Singles herausgebracht – allen voran „Drinkee“ (s. oben), durch das sie bekannt geworden sind – es lohnt sich, sich da mal in aller Ruhe respektive wild herumhüpfend durchzuhören.