Von Matthias Bosenick (02.11.2021)
Drei Veröffentlichungen, zwei davon auf dem Klangwirkstoff-Sublabel Separated Beats: Mit „Solarium“ eine Single von Labelchef Bert Olke alias B. Ashra, die „Secret Sessions“ – mit echten Glocken! – des Quintetts 70db, bei dem Olke ebenfalls mitmischt, sowie der Sampler „Durchströmungen 1 – Glaswolken“, alle drei im weitesten Sinne am Ambient angelehnt, mit Downbeat, Berliner Schule, Synthpop, Electro und sonstigen experimentellen elektronischen Spielarten. Nur als Download!
B. Ashra – Solarium (Klangwirkstoff)
In nur einem achtminütigen Track komponiert Olke entlang der an einer Frequenz der Sonne ausgerichteten Kosmischen Oktave sein „Solarium“, und das ist ein angenehm warmer Downbeat-Track geworden, der beinahe wie ein organisch eingespielter epischer Postrock auftritt, nur eben von elektronischen Mitteln begleitet, nicht von Gitarren. Dieses Schlagzeug könnte ein echtes sein, im Sound wie in der Spielweise; es generiert auch ohne vordergründiges Tempo einen stattlichen Groove, der nicht zwingend auf Tanzflächen zielt, eher auf Tranceflächen. Man mag beinahe an abwechslungsreiche Popmusik denken, nur ohne Songstrukturen. Mit den flirrenden Synthieläufen unterstreicht Olke zudem das Space-Thema, schließlich steht hier die Sonne im Zentrum.
Überhaupt, die Sonne! Als Stimmung legt Olke folgende Werte zugrunde: A 449,80 Hz – 38,2 Cent (-100/+100 Cent), 118,2 Bpm, 126,22 Hz, Gelbgrün. Physiker wissen damit sicherlich mehr anzufangen als reine Musikkonsumenten, aber eines ist gewiss: Die Dauer des Tracks entspricht der Zeit, die das Licht der Sonne bis zur Erde braucht. Das wird kein Zufall sein!
70db – Secret Sessions (Separated Beats)
Nicht „Hells Bells“, sondern drei eigens auf die Bühne des Schöneberger Rathauses in Berlin geschaffte „tonnenschwere“, so will es das Label wissen lassen, Kirchenglocken schwingen im Höhepunkt dieser Aufnahme. Die besteht aus dem Mitschnitt eines Auftrittes, der 2014 anlässlich des 100. Geburtstags des Auftrittsortes stattfand und die Expertisen fünf versierter vornehmlich elektronischer Musiker bündelt, nämlich Steve Schroyder (Ex-Tangerine Dream, diverse Solo-Projekte, Zusammenarbeiten mit unter anderem Anne Clark und Conrad Schnitzler), Wolfram Spyra (Documenta-Komponist, diverse Projekte), Rainer Von Vielen (Rainer Hartmann, auch Oriom oder Jacques Boom sowie Mitglied von Orange), Udo P. Leis (Künstler aus Kassel, der hier die Glocken schlägt) sowie Labelchef B. Ashra (Bert Olke).
Die vier Synthiemusiker vermeiden es, ihr Instrumentarium gleichzeitig losbollern zu lassen; der Sound dieser Performance ist klar, sanft, getragen, gleichzeitig warm (in der Basis) und kalt (in den spacigen Melodien), aber nie überfrachtet. Abgesehen von den drei Kirchenglocken und den Friedensglocken des Rathauses, die inmitten des Konzertes um Punkt 22 Uhr losläuteten, sind weitere Instrumente zu hören, wie das Theremin von Olke und ein Cello von Spyra, zudem lässt Hartmann seinen Obertongesang vernehmen; nie kommt es zum Mischmasch, die Sounds bleiben bei sich und ergänzen sich einnehmend.
So entstehen nicht nur spacige Trips, sondern auch viele spannende, unerwartete Momente, in denen die Musiker ihrem Instrumentarium Sounds entlocken, die den Tracks eine Popanmutung verleihen, mit sanften Hihats, unaufdringlichen melodischen Klickgeräuschen und sogar vereinzelt eingesetzten Beats, die recht ordentlich grooven. Doch nicht nur das Schöne liegt dem Quintett, auch das spookige, wenn es etwa in „Übernebel“ die Sounds zunächst in Richtung Drones verschiebt und eine zum Titel passende Atmosphäre kreiert. Interessanterweise treten diese eher atonalen Passagen nicht als störend in Erscheinung, sondern als lediglich anders geartete entspannende Musik.
Highlight und Alleinstellungsmerkmal ist aber ganz klar der Einsatz der Glocken. In „Ormolu“, also erst gegen Ende, schlagen die hauseigenen Friedensglocken, zu denen Hartmann seinen Kehlkopfgesang anstimmt und die Leis mit leisem Anschlagen der drei Kirchenglocken begleitet. Sphärische Synthiesounds untermalen das zurückhaltende Spektakel. Etwas mehr zur Sache geht es anschließend in „noTTon“, da fühlt man sich wie sonntagmorgens auf dem Dorf, wenn im sonnigen Frühjahr die Kirchen mit ihrem Geläut zum Gottesdienst einladen, die Insekten und Vögel in der Luft mit den Tönen um den Raum konkurrieren, wenn der Himmel pastellblau strahlt und man die Wahl hat, wie man diesen Tag am liebsten begehen möchte, mit dem ersten Frühstück auf der Terrasse vielleicht, mit einem Spaziergang durch die frisch ergrünende Landschaft, zwischen Feld, Wald und Wiesen, oder mit einem Buch in der Hand und dem Sound im Ohr den Tag noch etwas auf dem Bett hinauszögern. Vielleicht geht man ja auch ins Café, lecker locker brunchen? Dazu passt der vorletzte Track „Tubular Operation“, der mit seinem chilligen Downbeat genau danach klingt.
„No End In Sight“, behauptet das letzte Stück, und lügt doch. Ein gelungenes Experiment, diese fünf Charaktermusiker für diesen Auftritt unter einen Hut zu bekommen. Liveatmosphäre bekommt man übrigens gar nicht zu hören, abgesehen von einigen leisen Unterhaltungen auf der Bühne; vielmehr verwundert es, dass die meisten Tracks sogar ausgefadet sind, obwohl sie logischerweise im Original ein gespieltes Ende haben müssen. Ein schöner Soundtrack nicht nur für einen Rathausgeburtstag, der nun mit siebenjährigem Verzug zur allgemeinen Verfügung steht.
Durchströmungen 1 – Glaswolken (Separated Beats)
Den meisten Wumms hat die Veröffentlichung „Durchströmungen 1 – Glaswolken“; dabei geht es gar nicht um den Wumms einer Bassdrum, sondern um den Sound der Synthies und Samples. Bei dieser Sammlung handelt es sich nur oberflächlich um einen Sampler, schließlich ist an allen Tracks Benjamin „Ben“ Bekeschus beteiligt. Jener stellt hier seine zwei neuen Projekte Aus.Gleich und Spiralectric vor und bekommt dabei Unterstützung von anderen, darunter Knouchzone (das gemeinsame Stück „Reden ist Silber“ erinnert angenehm an „Extremis“ von HAL und Gillian Anderson), jemandem namens Tobias Zimt (möglicherweise Tobias Beyer) sowie Aerolyser, dem Projekt seines Bruders Sander Bekeschus.
Ben Bekeschus wildert in den Stilen, Downbeat-Ambient, Nu-Jazz, Trance, Synthiepop, Space, nur eines bleibt gleich: Er vermeidet straighte Clubbeats – und, trotz vieler schöner Melodien, klassische Songstrukturen. Manche Stücke klingen wie die Intros zu Achtziger-Hits, nur dass sie in diesem Introstil bleiben und diesen vertiefen. Manche progressiven Ambienttracks könnten aus den Neunzigern stammen, manches erinnert an Weltmusik-Downbeat, manches an aggressiv vorgestragene Hörbücher. Der Sound bleibt dicht und fett, die Entspannung erreicht Bekeschus nicht über Stille, sondern über zurückgenommenes Tempo. Mit diesen knackigen Sounds verweist Bekeschus auf frühere Betätigungsfelder wie Techno und Goa, Acid und Dub, der etwa in „Tropfen in der Dämmerung“ durchschimmert. Interessanterweise sind fünf Remixe nicht in jeder Fassung des Albums enthalten: Bekeschus bearbeitete Stücke von Paul Kalkbrenner, Tomcraft vs. Sunbeam, Push, Kai Tracid und Resistance D, die zwar bei Spotify aufgeführt sind, auf Bandcamp hingegen nicht.
Außerdem produziert Bekeschus übrigens Steel Tongue Drums, Stahlzungentrommeln, die entlang der kosmischen Oktave analog zu den Planetenfrequenzen des erdenbezogenen Sonnensystems gestimmt sind. Da fügt sich wieder alles.
Alle drei Veröffentlichungen gibt es ausschließlich digital.