Von Matthias Bosenick (10.08.2021)
Hier ist einfach mal alles nicht so, wie es das Genre erwarten lässt: Die Oebisfelder Valid Blu, Eigenschreibweise Valid blU, rechnen ihr Debüt „WFYB.TV“ dem Art- und Progrock zu, machen aber alles anders. Zunächst besteht das Quintett zu drei Fünfteln aus Frauen, von denen zwei den Gesang übernehmen: schon mal deutlich ungewöhnlich. Dann nehmen sie ein Konzeptalbum auf, das zudem explizit für eine Doppel-LP-Veröffentlichung produziert ist. Musikalisch bedienen sich die fünf bei den Achtzigern, streuen aber moderne Elektronik und unterschwelllige fette Riffs ein und erweitern ihr selbst genanntes Spektrum ohnehin angenehm grenzüberschreitend. „We Fuck Your Brain“ ist eine Wundertüte.
Es dauert satte dreieinhalb Minuten, bis sich aus dem atmosphärisch pulsierenden Intro zum ersten Stück „You Are Not Alone“ überhaupt ein Song herausschält. Das ist mal ein Einstieg! Und ein schöner Vorausblick darauf, dass man sich in den über 70 Minuten des Albums auf gar nichts verlassen kann, außer darauf, ständig positiv überrascht zu werden. Es geht schon damit los, dass Valid Blu ihren Artrock zwar mit Vorliebe in den Achtzigern verorten, sie die Pink Floyd jener Zeit durchschimmern lassen, ebenso Marillion oder die Genesis mit Phil Collins, aber mit den weiblichen Stimmen dazu wiederum mit diesen Assoziationen brechen. Ebenso verfahren sie mit der Elektronik, die unterschwellig die Songs trägt, aber nicht wie in den Achtzigern als Dudelteppich oder wie neuerdings symphonisch, sondern zeitgemäß pluckernd. Manchmal slappt Lena Uhde ihren Bass funky, wie in „Time Is Running Out“, Dennis Wetzler spielt ein ausgesprochen variantenreiches Drumming und Peter M. Schmidt bratzt die Gitarre gelegentlich deutlich heavier als im Artrock, in „Never Leave Your Home“ beinahe in bei Iron Maiden abgehörter NWoBHM-Manier, gelegentlich sind die Riffs mit Effektgeräten geil geshreddert, an anderen Stellen wiederum hymnisch gespielt wie bei U2.
Ebenfalls an U2 erinnert ein anderer Aspekt am heimlichen Hit des Albums, „Jetlag Hotel“, in dem die Sängerinnen Suzen Berlin und Anni Riemer die Strophen sprechen wie The Edge in „Numb“. Überhaupt liegt ihnen der Sprechgesang, und wenn sie mal den Melodien freien Lauf lassen, wird es zwar pompös, aber nicht so pathetisch wie etwa bei Nightwish. Vielmehr erinnern die zweistimmigen Passagen an Abba, was auch musikalisch nicht so abwegig ist; man führe sich nur von deren erweitert veröffentlichtem „Live“-Album die zehn Minuten von „Eagle“ und „Name Of The Game“ vor Ohren. Pathos als solchen gibt es indes auch, etwa in Balladen wie „DNA“ oder „Sometimes“, die beinahe zum Mitschunkeln auffordern. Aber Schlager: nein. Wenn es mal sehr in Richtung Pop ausschlägt, wie in „Fucking London“, drücken valid Blu dem Song sofort überraschend unpoppige Anteile auf. Und auch wenn die Songs länger sind als das gängige Radioformat, gefallen sich die Musiker nicht im Schaugniedeln, sondern setzen die Musik zweckdienlich ein, zugunsten des Grooves, der Atmosphäre und der Vielfalt.
Strukturell beginnt und endet „WFYB.TV“ eher balladesk, in der Mitte türmen sich die Experimente auf. Zentral gelegen ist nicht zufällig das Titelstück, wahlweise „WFYB!“ oder „We Fuck Your Brain!“ genannt, das deutlich mehr mostet als der Rest, dem Sprechgesang den Vortritt lässt und mit Elektro und Riffs mehr Härte einfließen lässt. Man hört, wie viel Bock die fünf auf dieses Stück haben, und dass es ihnen Spaß macht, „We fuck your brain“ zu skandieren.
Bei „WFYB.TV“ nun handelt es sich um einen Multimediakonzern, der der Menschheit das große Heil verspricht und der der Hauptfigur, nicht zufällig Suzen genannt, einen großartigen Job zusichert. Doch die Welt gerät aus den Fugen, in jeder Hinsicht, spätestens, wenn in London eine Atombombe explodiert. Ja, auch die Geschichte birgt Überraschungen, wie die Musik. Dabei ist diese Geschichte mit diesem Album noch nicht einmal komplett auserzählt: Drei weitere Stücke sind noch in Planung, die irgendwo zwischen Seite eins und zwei gehören und Ende des Jahres als EP erscheinen sollen, natürlich auf Vinyl. Wie das Album, das es mit zum Inhalt passenden Artwork als Doppel-LP gibt und auch eigens dafür produziert ist. Gemixt übrigens von Hannes Jaeckl, und dessen Hand machte die Mucke noch fetter. Beeindruckender Einstand der früheren Musiker von Suzen’s Garden!