Von Matthias Bosenick (12.05.2021)
Drei Veröffentlichungen aus jüngerer Zeit stehen dieses Mal an: Neue Alben von Grey Mouse und Crust sowie eine Compilation rund um Doom und Stoner in Russland – mit satten sieben Stunden Musik, darunter natürlich auch vom liebenswerten Label addicted/noname.
Doomed & Stoned In Russia (Volume 1)
Das wurde aber auch Zeit: Das Team von Doomed & Stoned aus Portland widmet sich in seinem jüngsten Szeneüberblick dem im Westen weitgehend unentdeckten Russland, natürlich und gottlob mit lokaler Hilfe. Satte 58 Bands wählten die Experten aus, und die Exempel decken ein Spektrum ab, das über Doom und Stoner hinausgeht, mit Sludge, Gothic Metal, Psychedelic, schlichtem Hardrock, Post Rock, Space Rock, Bombast-Rock, NWoBHM, Prog Metal, Black Metal, Death Metal, Thrash Metal und allem, was man sich dazwischen und darüber hinaus ausdenken mag, denn: Da in Russland die Entwicklung alternativer Musik an sich schon – zumindest in der Öffentlichkeit – sehr verzögert und also weit später als im Westen stattfinden konnte, hatten die russischen Bands einen umfangreichen Pool an Vorbildern und Wegebnern, allen voran natürlich Black Sabbath, denen sie nacheifern und deren Ideen sie nicht einfach kopieren, sondern sich die für sie besten herauspicken und daraus etwas Eigenes kreieren, eine Art Crossover gewissermaßen. Natürlich gilt das nicht für sämtliche Acts, einige sind ganz auf Linie, aber die punkten dann eben mit Spielfreude und einer allgemeinen fröhlich-depressiven Bekifftheit.
In dieser Zusammenstellung wirft das Team von Doomed & Stoned einen Blick in Vergangenheit (bis in die späten Achtziger, etwa mit Город Дит [Gorod Dit]), Gegenwart und Zukunft (einige Tracks sind exklusiv für diese Sammlung erst entstanden, etwa gleich der erste von An Object) des Genres in Russland, und das nicht etwa genau danach sortiert, sondern in alphabetischer Abfolge. Eine Dramaturgie ergibt sich mithin aus der schieren Vielfalt, die auf der schleppenden Grundstimmung basiert und sich ausgesprochen abwechslungsreich präsentiert. Hier ertönt ein flirrender Synthie mit Gesang wie bei Depeche Mode, dort meint man Type O Negative herauszuhören, hier growlt der Sänger, dort singt er klar, hier bedient man sich über zehn Minuten schlichtweg lediglich zweier Akkorde, dort schlägt die Band Haken um Haken, hier herrscht Eiseskälte, dort gniedelt eine warme Gitarre, hier gibt’s bitterböses Männergegrunze, dort singt eine Frau, hier groovt der Blues, dort der Dreivierteltakt. Erstaunlicherweise gibt es nahezu keine klanglichen Differenzen; die Musik ist so zeitlos, dass man den Unterschied zwischen Stücken von vor über 30 Jahren und heute nicht heraushört. Vielfältig ist die Sammlung auch in Besetzung (von Ein-Man-Projekt bis Bigband-Größe) und Herkunft (Ostsee bis Sibirien). Schön ist, dass nicht alle auf Englisch singen, sondern sehr oft das für westliche Ohren in diesem Kontext vermutlich etwas exotische Russisch den Vorzug bekam. Was sie alle eint: Gute Laune hört man eher nicht heraus – Spaß macht die Mucke deshalb aber nicht weniger.
Ausschlaggebend für die Entdeckung der russischen Szene war selbstredend das vertraute Label addicted/noname aus Moskau, deren Act Pressor dort 2013 eine Split-EP mit Soom aus der Ukraine und Diazepam aus Idaho herausbrachte. Und schon waren US-amerikanische Genrefans hellhörig geworden, so geht das. Und das nur ein halbes Jahr, nachdem Billy Goat seine Plattform Doomed & Stoned überhaupt ins Leben gerufen hatte. Hilfe aus dem Osten erhielt er für diese Zusammenstellung von den vier A: Anton Bryukov, Anton Kitaev, Alexey Kozlov und Alexey Sivitsky, und Kenner wissen, mindestens einer davon ist aktiver Kopf von addicted/noname. Kein Wunder also, dass dieser Überblick so grandios geworden ist, und dass klassische Vertreter dieses grandiosen Labels hier enthalten sind, wie Crust, IL (ИЛ), Megalith Levitation, Pressor, Spaceking oder The Grand Astoria, und dass sich auf der Bandcamp-Seite hinter jedem Download ein Info-Button mit Angaben zur Band und zum Song findet. Damit ist diese Episode von Doomed & Stoned beinahe ein Lexikoneintrag, der das Ziel, sich auf Doom und Stoner aus Russland zu konzentrieren, mit einer bretitestmöglichen Streuwirkung übererfüllt. Großartig, nicht nur für Einsteiger.
Crust – Stoic
Keinen Crust machen Crust, das mag verwirren, aber was man stattdessen von ihnen bekommt, ist jede Aufmerksamkeit wert. Die Grundierung besteht aus einem verschleppten Black Metal mit starkem Doom-Einschlag, den das Trio weit in den modernen Postrock drängt. Heißt: Die Songs wälzen sich episch und tiefgestimmt in die Länge, die Riffs tragen Dunkelheit und Schwere, der geschriene Gesang trägt die Wucht des Hardcore in sich, und in seltenen Passagen prescht das Trio mit flirrenden Gitarren und Blastbeats nach vorn wie beim klassischen Black Metal. Das Ganze reichern die drei mit Elementen aus Wave und Gothic an, also mit düsteren Flächen und atmosphärischen Harmonien. In der Mitte des Albums nehmen sie sich die Zeit, für eine Dreiviertelminute akustisch gespielt unter Beweis zu stellen, dass sie weit mehr können als das wohlgeschreinerte harte, langsame Brett. Einem eindeutigen Genre zuzuweisen ist die Musik nicht, aber Crust vermengen die Elemente auf eine Art und Weise, die überzeugend und stimmig ist, die beinahe zwingend die Übergänge generiert. Den Schluss markiert ein atmosphärisches, zunächst beinahe ambientartiges Instrumentalstück, das die Stimmung nochmal so richtig nach unten zieht. Herrlich!
Bei „Stoic“ handelt es sich um ein Konzeptalbum zum Thema Stoizismus, also der Philosophie der Gelassenheit, mit der die Band dem gegenwärtigen Weltgeschehen zu begegnen empfiehlt. Da sich die Musik selbst vorrangig dahinschleppt, könnte man diese Gelassenheit auch mit Entspannung kombinieren und den ganzen Scheiß einfach mal rechts liegen lassen. Bei „Stoic“ handelt es sich um das bereits fünfte Album des Trios aus Weliki Nowgorod (Великий Новгород), wie die Stadt Nowgorod seit 1999 heißt. Und das in nur sechs Jahren und das zusätzlich zu diversen Livealben und EPs; die Jungs sind echt mal produktiv, und das immer auf hohem Niveau.
Grey Mouse – A Moment Of Weakness
Das Album „A Moment Of Weakness“ des Quartett Grey Mouse aus Moskau atmet den Geist der Sechziger: „A Moment Of Weakness“ lässt sich rund um den Summer Of Love im Südwesten der USA verorten, mit Anteilen aus Folklore, Psychedelic, Bluesrock und einer gothischen Dunkelheit wie bei 16 Horsepower, also mitnichten so fröhlich wie damals. Denn die fünf Frauen und Männer (pro Song jeweils vier, zwei Schlagzeuger wechseln sich ab) halten ihre Songs reduziert und langsam, dabei in den musikalischen Anteilen detailverliebt. Die Grundstimmung ist definitiv depressiv, das macht das Album so ungewöhnlich, aber die Musik eben nicht so voluminös wie bei 16HP, sondern spartanischer, trotz Einsatzes von Cello. Dafür bekommen die wechselnden Drummer Raum, sich innerhalb der Stücke zu entfalten, gern auch kombiniert mit einem knarzenden Bass. Dazu erklingt die beinahe liturgische Stimme des Sängers.
Bei „A Moment Of Weakness“ könnte es sich um das fünfte Album der Moskauer handeln, die Grey Mouse bereits Ende der Neunziger gründeten und zum Teil nebenbei noch bei einer Band namens October 14 1964 tätig sind. Die Besetzung von Grey Mouse wechselte seitdem regelmäßig, geblieben ist Gründer Alex Chunikhin an Gitarre und Bass, und wie viele Alben unter den zahlreichen Veröffentlichungen noch existieren, wissen vermutlich nicht mal die Musiker selbst.
Das Album schließt stilecht mit dem „Suicide Song“, und so deprimierend, wie sich das liest, klingt er auch. Ein konsequenter Abschluss für ein Album, das die düstere Seite des Hippietums zelebriert. Einen Moment der Schwäche gönnen sich Grey Mouse mitnichten, es zeugt vielmehr von Stärke, sich so zerbrechlich zu zeigen.