Von Matthias Bosenick (24.11.2020)
Ein neues Live-Mega-Pack von Devin Townsend. Juhu. Und dann noch beindext mit Volume 1. Die Unterschiede zu bisherigen Livealben sowie den Studioversionen sind marginal, auch wenn hier andere Mitmusiker als sonst am Start sind. Gute Leute, sicherlich, doch fällt bei den Unterschieden sofort der etwas schlechtere Sound ins Ohr: Das Schlagzeug klingt wie Pappe und nicht alle Gitarrenriffs tragen die Wucht, die man von ihnen kennt. Und man fragt sich angesichts der Hawaii-Folklore: Ist das noch Metal oder doch schon weit mehr Operette und Schlager, als man bei früheren Auftritten schon befürchtete?
Eins belegt auch diese Box: Devin ist ein Gigant, in Stimme, Gitarre und Komposition. Wenn er dann aber im Hawaiihemd die Bühne betritt (und den Opener „Borderlands“ im Reggaerhythmus beginnt), im Röckchen umhertanzt oder in gesangsfreien Synthieorchesterpassagen mit Plüschtieren spielt, gerät das Lächeln des Betrachters schief und die Performance ins Alberne. Ja, es geht im besser, angesichts der Zeiten, in denen eine Depression sein Wirken bestimmte, freut man sich natürlich mit ihm, dass er die überwunden zu haben scheint, aber ähnlich wie bei bei einem drogenfreien Trent Reznor nimmt mangelnder Schmerz offenbar auch der Musik die Tiefe. Freaky zeigt Dev sich ja schon länger, man siehe den „Retinal Circus“ oder „Ziltoid Live“, und außerdem war auch schon „Empath“, das Album, das diesen Auftritt begleitete, für manche alten Fans nur schwer zugänglich.
Dennoch, die Songs sind natürlich grundsätzlich grandios. Dev bedient sich für die Setlist beinahe bei seiner gesamten Karriere, da kommen also alte bis mittelalte (einen Schwerpunkt bildet etwa das 2009er-Album „Ki“) Gassenhauer ebenso zum Einsatz wie „Empath“-Stücke. Doch da man gerade die älteren Hits schon in so vielen Versionen kennt, fällt hier umso mehr auf, dass Dev da zwar mal hier und dort herumarrangiert und die Mitmusiker und –sängerinnen auch mal vom gewohnten Pfad abweichen lässt, daraus aber nur wenig Mehrwerte entstehenlässt. Zumal eben der Sound nicht wirklich besser ist, und seien die Mitstreiter da noch so versiert.
Dafür sind eben die Laune gut und die Power groß. Und das, obwohl Devs ureigene Form des Metal nur selten zum Einsatz kommt, auch wenn die Vorlagen im Einzelfall ursprünglich sehr heavy waren. Die vermeintliche Härte gerät hier viel zu bombastisch und pathetisch, um wirklich noch heavy zu sein; das ist beinahe Popmetal im finnischen Power-Stil. Immerhin die atmosphärischen Passagen überzeugen, und davon ist das Album voll. „Coast“, „Gato“, „Castaway“: Dev hat Seele und lässt sie auch schwingen (und den Chor dazu singen). Das war wohl auch die Intention für „Empath“, das irgendwie Spirituelle, das als Musik dann aber so willkürlich erschien, dass sich die zappaeske Komplexität des Albums nicht jedem erschloss. Gottlob scheinen sich die entsprechenden Songs in dieser Setlist zu entwirren. Und trotz dieser Seele lässt es sich Dev wie auch bei einigen früheren Livemitschnitten nicht nehmen, die besonders chilligen Momente zuzuquatschen, als traue er seiner eigenen Botschaft nicht. Und wenn die Band nach all der Opulenz und der Überborderei gegen Schluss auch noch das „Disco Inferno“ der Trammps anstimmt, belegt das zwar einen weiten geschmacklichen Horizont, setzt der Überlastung aber auch ein Krönchen auf.
Kurz zur Band: An den Bass rekrutierte Dev den Internet-Hit Nathan Navarro. Schlagzeuger ist Morgan Ågren, bekannt von den schwedischen Proghelden Mats/Morgan, auch im Einsatz beim Soloalbum des Meshuggah-Gitarristen Fredrik Thordendal sowie live mit Frank Zappa. Unter anderem. Die etwas zu zurückhaltende Gitarre spielt Markus Reuter, seit den Achtzigern extrem gefragter und produktiver Musiker, den aber trotzdem sonst niemand kennt; sein Stil nennt sich „Touch-Guitar“, und vielleicht ist das zwar besonders, aber eben zu behutsam für den Metal. Die dritte Gitarre (Dev spielt natürlich gelegentlich selbst auch eine) bedient Frank Zappas Ex-Buddy Mike Keneally. Zu guter Letzt streut der mexikanische Keyboarder Diego Tejeida Sounds und Samples ein. Zu den Sängerinnen: Die Soulstimme Ché Aimee Dorval kennt man bereits vom gemeinsamen Country-Projekt Casualties Of Cool. Bislang wenig in Erscheinung traten dafür Arabella Packford sowie Samantha und Anne Preis. So hat man also Devs Songs mit Chor, aber auch das ist nichts Neues, das kennt man schon von diversen Livealben.
So richtig überzeugend ist es nicht, sich dieses Paket – zur Auswahl steht unter anderem das Buch mit zwei CDs, einer DVD und einer BluRay – zuzulegen. Außer als Vervollständigung. Und dann noch mindestens ein weiterer Teil? Es sei denn, Dev macht es wie Bowie, der seinem „1. Outside“ einfach keine Fortsetzung zuteil werden ließ. Weitere Livealben und –boxen von Dev: „Unplugged“ (2011), „By A Thread (Live In London 2011)“ (2012), „The Retinal Circus“ (2013), „Ziltoid Live At The Royal Albert Hall“ (2015), „Iceland“ (2016), „Ocean Machine (Live At The Ancient Roman Theatre Plovdiv)“ (2018). Das neue Album, einmal mehr in London mitgeschnitten, hat etwas Überforderndes. Es ist zu viel, irgendwann einfach viel zu viel. Und Dev hat längst alles einmal ausprobiert, Ambient, Dance, Country, Metal, Gospel, Schlager, Punk – was soll da noch kommen? Auf jeden Fall eine günstige Gelegenheit, mit Zweitverwertungen die Fans zur Kasse zu bitten.
Die Setlist:
01 Borderlands (von „Empath“, 2019)
02 Evermore (von „Empath“, 2019)
03 War (von „Infinity“, 1998)
04 Sprite (von „Empath“, 2019)
05 Gigpig Jam
06 Coast (von „Ki“, 2009)
07 Gato (von „Ki“, 2009)
08 Heavens End (von „Ki“, 2009)
09 Ain’t Never Gonna Win (von „Ki“, 2009)
10 Deadhead (von „Accelerated Evolution“, 2003)
11 Why? (von „Empath“, 2019)
12 Lucky Animals (von „Epicloud“, 2012)
13 Castaway/Genesis (von „Empath“, 2019)
14 Spirits Will Collide (von „Empath“, 2019)
15 Disco Inferno
16 Kingdom (von „Physicist“, 2000)