Von Matthias Bosenick (19.11.2020)
Da kann man ganz tief abtauchen und entspannen, eine Wohltat in diesen Zeiten. Die spanischen Instrumental-Postrocker Toundra nehmen auf diesem angenommenen Soundtrack zu dem nun genau einhundert Jahre alten Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ dem Postrock auf weiten Strecken das Schlagzeug und legen den Fokus mehr auf das genretypische wavige Gitarrendudeln. Nach den rockigen Alben „(IV)“ und „Vortex“ sowie insbesondere dem emotional überwältigenden Exquirla-Projekt war dieser Rückzug ins Leise nicht zu erwarten, gefällt aber bestens, sobald man sich darauf einlässt, den Weg mitzugehen. Ein gottlob kitschfreier Höhepunkt der anstehenden Jahresbestenlisten.
Man erkennt Toundra am Sound und an einigen Akkordfolgen. Da kann es noch so viele Postrockbands auf der Welt geben, die alle vergleichbare Anteile in Aufbau und Sound ihrer Tracks tragen, aber Toundras Gitarren haben einen typisch warmen Sound und transportieren vertraute Melodien, die man in einigen Einzelfällen eben doch von den vorherigen Alben schon kennt. Emotionen, latenter Pathos, eine gelegentliche Nähe zu Progressivität und Härte, womöglich die iberische gebremste Heißblütigkeit, aber eben null Kitsch: Toundra erheben sich eigen aus der Menge der Genrekollegen.
Auf diesem Album fehlt zumeist die Wucht des Schlagzeugs und damit eine bestimmte Art, die Tracks zu strukturieren, zu verschachteln, ihnen eine Komplexität und eine Wandelbarkeit mitzugeben, die dieser Soundtrack wohl schlichtweg nicht erfordert. Hier geht es um Atmosphären, um Kontinuität, um allmählichen Aufbau, um gemächlichen Wechsel, um Dunkelheit, um Wiederholung, um Stimmungen und Gefühle, partiell auch um große Gesten, versehen mit dem für Postrock typischen und dem Shoegaze entlehnten Gitarrenflirren. Überraschungen bringt die Band nicht vordergründig unter, zumindest nimmt man sie nicht gleich wahr, weil man sich zunächst in das Leise, Weiche fallen lässt und erst im Verlauf entdeckt, was in den Tracks dann doch noch alles passiert. Denn so ganz frei von Schlagzeug, wie man zunächst annimmt, ist es dann doch nicht. Es schleicht sich immer mal wieder dezent ein, und plötzlich und ganz kurz, zweimal im „V. Akt“, übernimmt es den Track wie bei Toundra üblich, dann reißen sogar angedeutete Gitarrengewitter den Hörer aus dem Flow, da könnte man dann von diesem Album tatsächlich leicht als „(VI)“ sprechen.
Und wenn dann plötzlich Glockenschläge dröhnen und das Klavier dem Gruselfilm angemessene tiefe Töne anschlägt, ahnt man, dass man sich dazu vielleicht wirklich einmal den originalen schwarzweißen Stimmfilm angucken sollte. Der feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag, aus diesem Grunde interpretieren Toundra dieses expressionistische Werk neu und orientieren sich dabei an der Struktur des 72-minütigen Films, benennen also ihre Tracks nach „Titelsequenz“ und den sechs Akten. Was ja passt, schließlich sind die Alben Toundras im Grunde auch römisch durchnummeriert („Vortex“ trägt die 5 am Anfang) und das vorliegende ist ihr sechstes – nur hoffentlich nicht ihr letztes. Auf ein zweites Exquirla-Album ist außerdem sehr zu hoffen.
Das Album gibt es in diversen Färbungen auf Vinyl, als Doppel-LP mit einer beigefügten CD. Und wer jetzt „Heroes del Silencio“ sagt, nur weil Toundra eine wavige Gitarrenband aus Spanien sind, darf sich zwischen zwei Welten stellen.