Von Matthias Bosenick (14.09.2020)
Auch ein Jahr später noch eine Granate: Ein fehlender Schlagzeuger reißt nicht zwingend eine Lücke, wenn das verbleibende Braunschweiger Duo Fly Cat Fly geile Songs zu schreiben und die ersatzweise programmierte Drummachine organisch einzusetzen weiß. So viel Atmosphäre, so viel Wucht, so viel Emotion, so viel Warmherzigkeit und so viel Tiefe in den neun Songs: Die Lücke bestand eher darin, dass es dieses Album, „Let’s Hear It For The Chosen“, vorher nicht gegeben hat. Experimentelle Indierockhymnen fürs Herz. Gibt‘s auch als Schallplatte!
Es ist nicht so, dass der Schlagzeuger nicht gut gewesen wäre: Sein Spiel wirkt auf dem Debüt „Pocketful Of Pain“ aus dem Jahr 2015 so vielseitig, dass es beinahe dreidimensionale Räume erschafft. Aber offenbar setzte nach seinem Austritt die Limitierung auf eine rein technische Unterstützung bei Sina Lempke und Cord Bühring kreative Impulse frei, die aus der vermeintlichen Not eine Offenbarung machen. Zudem programmieren sie diesen Drumcomputer nicht wie einen stumpfen Disco-Herbert, sondern man hört nicht in jedem Song, außer es ist explizit als Stilmittel eingesetzt, dass es sich überhaupt um eine Maschine handelt. Die künstlichen Sounds sind so warm wie die handgespielten Instrumente und fügen sich in den organischen Sound ein.
Diese Instrumente, also Gitarre und Bass, loopen die beiden mit Vorliebe, um ihren Sound verspielter und bei Belieben auch fetter zu gestalten. So unterbrechen sie ihre zarten Songs gern mit wuchtigen Eruptionen, nur um alsbald ins Wohlige zurückzufallen. Dazu beherrschen sie die wunderschönsten, zusammen mehrstimmigen Harmoniegesänge, die sich sofort im Herzen einnisten, und dabei die verwunderte Frage aufkommen lassen, warum man sie genau so nicht längst schon von anderen gehört hat. Eingängig ja, einfach aber nein: Dafür sind die Songs von Fly Cat Fly viel zu komplex, dafür haben Sina und Cord viel zu viel Lust auf Experimente, Überraschungen, unerwartete Effekte, wie filigrane Nebenmelodien, Minimalsoli, inmitten vornehmlich englischsprachiger Texte auf Deutsch gebrüllte Megaphonparolen, groovende Basslinien. Mit Indierock ist das Genre nur unzureichend festgelegt, da steckt Postrock drin, Waverock, Wüstenblues, schwarzgefärbter Discopop, klaustrophobischer Kammerfolk. Was Fly Cat Fly dabei gottlob unterlassen: sich an gängige Muster anwanzen.
Idealerweise erwirbt man das Album natürlich auf Vinyl, auf CD und als Download ist es, wie das Debüt, aber ebenfalls erhältlich. Ebenso kann man sicherlich auch noch frühere Projekte der Beteiligten sammeln, darunter Zoomite und Bionic Brit, sowie sich das jüngste Werk „No Fame No Glory“ bei Bandcamp herunterladen (wann kommt die CD- oder LP-Version?). Und wenn das Quasi-Titelstück, das abschließende „In The End It‘s Flood“, durchgelaufen ist, will man sowieso nur „Let‘s Hear It For The Chosen“ erneut hören: Es türmt sich auf, es reißt mit, es malmt, es überwältigt, wie das ganze Album. Und live, übrigens, sind die beiden nicht weniger Granate.