Von
Matthias Bosenick (02.04.2020)
Sobald
man über die eine Sache zu staunen beginnt, sollte man sich nicht zu
lang damit aufhalten, sonst entgehen einem die nächsten mindestens
drei staunenswerten Dinge. In der Post war kürzlich einmal mehr ein
Paket mit Musik aus Moskau, und zwar mit Alben von Der Finger, Disen
Gage und Волшебная Одноклеточная Музыка.
Irres Zeug: Der Finger spielen mit dem puren improvisierten
Experiment, Disen Gage kreieren experimentellen Indie-Rock mit
unerhörten Zutaten und Волшебная Одноклеточная
Музыка, auch Magical Unicellular Music, improvisieren sich
hypnotisch in fernste Sphären. Alle Alben eint, dass sie mit dem
Multiinstrumentalisten Anton Efimov verbunden sind. Eine
psychedelische Schatzkiste!
Волшебная Одноклеточная Музыка – Камень – Отделение ВЫХОД 2008
Allein das Konzept der Projektbesetzung macht einen Knoten ins Gehirn: „Magische einzellige Musik“ nennt sich die Gruppe, der keine festen Mitglieder angehören, sondern die für jede Veröffentlichung aus eigens zusammengewürfelten Musikerensembles besteht und diese schlicht durchnummeriert. Für das Doppelalbum „Stein“ zeichneten B.O.M. 5 aus Minsk und B.O.M. 4 aus Moskau verantwortlich. Die erste CD, „Часть первая“, also Teil Eins, bestreitet die Kommune aus Minsk. Die rhythmische Grundlage des zwanzigminütigen Openers, wie sämtliche Tracks der beiden Alben unbetitelt übrigens, bildet ein treibender Krautrock-Beat, darüber flirren dem Stoner entlehnte Gitarren, posaunen Walgesangartige Blasinstrumente, krakeelen Stimmen und groovt ein Bass. Die Sogwirkung ist unglaublich, es könnte ewig so weitergehen. Track 2 rumpelt in freie Jazzassoziationen, Track 3 kehrt zum stoischen Krautrock zurück, nur weit minimalistischer, gefühlt aus lediglich den Beat begleitenden Tönen bestehend, und der finale Track 4 hat noch die pop- oder rockähnlichsten Strukturen über dem mit psychedelischen Sounds bestückten Krautbeat; The Velvet Underground und Hawkwind lassen den Joint kreisen.
Der zweite Teil, also „Часть вторая“, besteht aus sieben etwa gleichlangen, ebenfalls unbetitelten Tracks von um die sechs Minuten Länge. Das Kollektiv aus Moskau ist erdverbundener, die Improvisationen sind weit weniger spacig als die der Kollegen aus Weißrussland. Hier treibt das Schlagzeug ebenso wie auf der ersten CD, doch mit mehr Aggressivität. Auch die Musik dazu, schräge Töne zum rhythmisch angeschlagenen Bass, tragen aggressive Züge, auch wenn sie längst nicht in Heavyness münden. Track 2 startet mit einem Polkarhythmus, nähert sich also eher dem Punk, und bietet ebenso stoischen Groove mit störenden Sounds darüber. Das Ensemble spricht nicht zufällig von Acid Punk; hier begreift man, was darunter zu verstehen ist. Track 3 könnte eine bratzige Rock‘n‘Roll-Version von Suicide sein und bedient damit ebenfalls das zuvor genannte Genrelabel. Diesen Weg in Richtung Rock‘n‘Roll behält Track 4 bei, der mit seinem Indierock-Beat zum Kopfnicken einlädt; so ganz nach Madchester passt er jedoch nicht, wegen der angenehm irritierenden Sounds, die man von den vorherigen Tracks schon kennt, die die Eingängigkeit des Hedonismus‘ konterkarieren. Noch am ehesten nach der ersten CD klingt Track 5 mit seinem Krautbeat, während der schleppende Track 6 im New York der No-Wave-Nichtwelle nicht unangenehm aufgefallen wäre; die frühen Swans sind da eine Referenz. Der finale Track pulsiert sich mit einer Orgel in den Orbit, wo schon die Kollegen aus Minsk freundlich winken.
Informationen über das Kollektiv sind nur lückenhaft zu bekommen, es gab wohl einige Alben vor diesem sowie viele mehr danach, sogar eines – wenig überraschend – mit Damo Suzuki. Wie viele Alben es insgesamt gibt und ob das Projekt überhaupt noch existiert, lässt sich nur schwer ermitteln. Kompliziert mit der Sucherei wird es auch, sobald sich das Kollektiv als VOM abkürzt, der anglifizierten phonetischen Variante des kyrillischen BOM. Oder als Solntsetsvety Artistic Group bezeichnet. Wie auch immer: Wer das Album in die Finger bekommt, soll sich glücklich schätzen!
Der
Finger – Darmstadtium-273 Disk 2 – Der Finger 2013
À
propos Finger: Bei Der Finger handelt es sich um ein
Experimental-Projekt mit unerhört schwer zugänglicher Musik. Anton
Efimov spielt Bass und Gitarre, Evgenia Sivkova steuert
Bassklarinette, Saxophon, Schlagzeug und ihre Stimme bei. Ihr Vater
Edward Sivkov begleitet das Duo auf den ersten beiden Tracks am
Saxophon. Den Stücken liegt etwas Vertrautes zugrunde, man kennt die
Strukturen aus der Musikhistorie, aber nicht so, wie Der Finger sie
wiedergeben. Bereits das zweite Stück „Der Zug“ scheint ein von
einer betrunkenen Kirmeskapelle nachgespielter Boogie mit den
falschen Instrumenten zu sein, der sich alsbald ausgepowert in Trance
trötet. Aus der Beruhigung wird Beunruhigung, „Big Toe“
vermittelt ein Gefühl von Beklemmung, das aus der vorherigen
Entspannung resultiert. Für den anschließenden „Rock Finger“
ist die Kapelle wieder ausgenüchtert und spielt einen eigenwilligen,
weil richtungslosen Glamrock, der immerfort verspricht, in ein
vertrautes Gefühl einzubiegen, dann aber die Kurve nicht nimmt,
sondern den Umweg einschlägt. „Blinde Farbe“ greift im Titel das
Konzept des eigentlichen Doppel-Albums auf: Ein blinder Maler und ein
tauber Musiker legen Spuren aus, um einander wiederzufinden, und
treffen sich in nicht sichtbaren Kunstwerken des Geistes. So klingt
auch das Stück: eine Viertelstunde unsichtbare Musik. Der
„Stangenzirkel“ ist ein siebenminütiges Saxophonexperiment, im
finalen „KosmiSchmetterling“ vibriert sich das Duo in tiefe Töne
ohne Struktur. Viele bemerkenswerte Ideen, viele eigenwillige Sounds;
allein eine bessere Produktion, die nicht nach Proberaum klingt,
hätte „Darmstadtium“ gutgetan. Aber es zählt hier ganz klar der
Gedanke, und den hat sonst niemand. Den ersten Teil dieses Werkes
muss man separat erwerben.
Der
Finger – Medizin – Der Finger 2019
Nach jetzigem Stand
folgte bei den Vielveröffentlichern Der Finger auf „Medizin“ bis
dato lediglich der Track „Der Krake“, gerade vorgestern erst. Für
„Medizin“ orientiert sich das Projekt an der Aussage des
Hippokrates, wonach Krankheiten innere und äußere Ursachen haben
können. In den sechs Jahren seit „Darmstadtium-273“ hat sich in
Sachen Aufnahmequalität bei Der Finger viel getan, der Sound kling
jetzt mehr nach gutem Studio. Das Schlagzeug erinnert hier
erstaunlicherweise an die Art, wie es Jörg A. Schneider dieser Tage
spielt: Es rumpelt, klickert und drischt vor sich hin, nur dass dem
improvisierten Spiel hier in Beat zugrundeliegt. Den greifen
dröhnende Saiteninstrumente auf. Weite Passagen bestehen lediglich
aus Geräuschen ohne erkennbare Quelle, diese erinnern angenehm an
frühe Industrial-Experimente wie die von SPK oder Hunting Lodge.
„Hippocrates“ holt alsbald das Saxophon dazu, die „Homeophathie“
wird ihrem Titel gerecht: Es ist nur die Erinnerung an Musik übrig.
In „Hanahaki byou“ hustet indes niemand Blumen, und wenn doch,
sind es eher Blumen der Angst; das Stück hat gar nichts
Romantisches, es verstört vielmehr mit verzerrter Stimme zum
dröhnenden Sound. Dröhnen und Übersteuern sind ohnehin die
prägenden Elemente dieses Albums, immer wieder durchbrochen oder
angereichert vom freejazzigen Schlagzeug. Die „Medizin“ ist
längst nicht mehr so verspielt wie „Darmstadtium“, hier haben
die Musiker den Blick in den Abgrund längst gewagt und ihre
Eindrücke in Musik umgesetzt. Außerdem ist die „Medizin“ eher
eine Krankheit, von der man aber nicht geheilt werden will. Eine
Herausforderung!
Disen
Gage – Hybrid State – Disen Gage 2017
Noch am ehesten
greift „Hybrid State“ von Disen Gage diese Art zu musizieren auf,
auch das Artwork erinnert daran. Hier ist Anton Efimov Gast von
Konstantin Mochalov und Daria Solovyeva; sie fassen Disen Gage als
offenes Projekt auf, für das sich Musiker seit 1999 ungezwungen
zusammenfinden. „Hybrid State“ stellt den Soundtrack zu einer
offenbar imaginären Dokumentation über 3D-Nanomikroskopie dar. Die
instrumentalen Stücke sind frei, die Instrumente erzeugen abstrakte
Melodien und kaum Rhythmus, ein Schlagzeug fehlt hier ohnehin
komplett, zu den Neil-Young-Gniedeleien gesellen sich flirrende
Spielereien. Das Album vertont Wissenschaftsfiktion, und es klingt
selbst wie der Blick in ein Experimentallabor. Trotz einiger
hochfrequenter Samples ist der Sound an sich streckenweise
überraschend warm. Fuzz, Drone, Fiepen dominieren große Teile des
Albums, zuletzt entlässt einen das Trio via „Siberian Academy“
in die Kälte. Definitiv, jedes Album von Disen Gage klingt anders.
Disen Gage – Snapshots – Art-Beat 2017
Und das ist dieselbe Band, ein Album früher, im selben Jahr? Ist es nicht: Die Besetzung ist eine komplett andere. Hier agiert ein Quartett in gängiger Bandbesetzung plus Keyboard, unterstützt von diversen Gästen, unter anderem Kamille Sharapodinov von The Grand Astoria und The Legendary Flower Punk. Und „Snapshots“ ist im ersten Song „Me“ eine Art avantgardistisch verrockte Folklore, extrem auf dem Punkt gespielt, trotzdem sehr verspielt, mit einander umflirrenden Soundideen, die in die schunkeligen Tracks einbrechen wie eine drogenumnebelte Rockerbande in ein Schützenfest. Das Dunkle übernimmt hernach die Grundstimmung, mögen die Keyboardfanfaren noch so cheesy sein: Etwas Bedrohliches liegt in den Stücken, die auf vertraute Genres verweisen, aber wie der falsch gespiegelte Zwilling dazu erscheinen. Es überrascht die verschachtelte Spielfreude, mit der die Band hier zu Werke geht. Die Musiker frickeln, experimentieren, ergänzen, was das Zeug hält. Die Kompromisslosigkeit lässt an Frank Zappa oder Mr. Bungle erinnern, der Sound ist aber grundeigen. Kirmes, Psychedelic, Folklore, Progrock, Poprock, AOR-Rock, Stoner, Jazzrock und zahllose weitere Genres erfahren hier eine Fleischwolfdrehung, und das auch noch fett produziert. „Trip“ heißt das vorletzte Stück, gefolgt vom kurzen „Hangover“: Man muss nicht saufen, um hiervon einen Kater zu bekommen. Bekömmlicher ist „Snapshots“ in jedem Fall. Ein weit geöffnetes schräges Universum!
https://derfinger.bandcamp.com/
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