Von
Matthias Bosenick (01.05.2019)
Überraschend unscheiße
für einen Nicht-Marvel-Gucker stellt sich „Avengers: Endgame“
heraus, wahlweise der vierte Teil oder der zweite Teil des dritten
Teils der Reihe. Mit einigem von Sitznachbarn abgehorchten Vorwissen
über die Geschehnisse aus den gefühlt 100 Filmen aus dem
Marvel-Universum, deren Schicksale hier zusammenfallen, hat man Spaß
und Genuss an dem Drei-Stunden-Abenteuerfilm. Das Regisseurduo Joe
und Anthony Russo macht einiges besser als die anderen Kollegen aus
Hollywood, und für eine Comicverfilmung ist das Ergebnis trotz der
Superheldenthematik angenehm in der Realität verankert. Bei so viel
Positivem sind Logiklücken verkraftbar, die sind bei Zeitreisefilmen
nun mal nicht zu vermeiden.
In diesem Film hat man es nicht vordergründig mit Superhelden zu tun, sondern mit Menschen, die ein Problem zu lösen haben und dafür gelegentlich auf Eigenschaften zurückgreifen, die nicht jedem zur Verfügung stehen. Statt comichafte Strampelanzüge zu tragen, aktivieren sie vielmehr eine hochtechnisierte Kombination aus Panzer und Waffe. Das ermöglicht einen authentischen Zugang zu den Charakteren, die hier auch tatsächlich als solche angelegt sind: Die Figuren haben Profil, die Geschichte erlaubt ihnen Tiefe, Ruhe und Zeit, man findet Zugang und Identifikationspotential. Einen Sitznachbarn erinnerte die Erzählweise der ersten Hälfte beinahe an Arthaus-Filme; für den Rest greifen die Russos auf die Schlachtengemälde aus „Herr der Ringe“ zurück.
Die Geschichte setzt an dem Punkt an, als im Vorgängerfilm „Avengers: Infinity War“ ein Außerirdischer namens Thanos, nicht zu verwechseln mit der erstklassigen Braunschweiger Pizzeria Tano‘s, sein Vorhaben verwirklichte, mithilfe von sechs Zaubersteinen auf sämtlichen Planeten im Universum die Hälfte allen Lebens auszulöschen. Dieser Exitus traf auch die zerstrittene Superheldengemeinschaft Avengers und lähmt nun deren verbliebene Mitglieder. Erst fünf Jahre später kommt wieder Leben in die Gemeinschaft, als einer der als verschollen geglaubten Helden aus einer Technikfalle zurückkehrt und dem Team damit die Möglichkeiten von Zeitreisen kredenzt. Der Plan der Bande: In die Vergangenheit reisen, vor Thanos die Steine klauen, in die Gegenwart zurückkehren, die seit fünf Jahren toten Lebewesen zurückholen, als wäre nichts geschehen, und um des Zeitflusses Willen die Steine wieder zurück in die Vergangenheit bringen. Dafür bringen die Blues Brothers die Band wieder zusammen, weil jeder Fähigkeiten hat, die für das verwegene Vorhaben vonnöten sind, und sehen sich mit einem schlagkräftigen Thanos aus der Vergangenheit konfrontiert, der überall ein Wörtchen mitboxen will.
Die Verankerung der Geschichte in der Realität erfolgt nicht nur über die menschlichen Schicksale, in denen die meisten Superhelden gefangen sind, wie durch Thanos zerrissene oder nach seinem Schlag neu gegründete Familien, sondern auch mit popkulturellen Kniffen, die sich nicht allein aus dem Marvel-Universum speisen. Ein bierbäuchiger Thor im Bademantel muss kurzzeitig auf den Namen „Lebowsky“ hören, von der blauhäutigen Androidin Nebula ist einmal als „Schlumpfine“ die Rede, und sobald es um Zeitreisen geht, geschieht bei den Avengers dasselbe, was auch beim Zuschauer der Fall wäre: Sie analysieren Zeitreisefilme, um sich in das Thema einzudenken.
Das Superheldische kommt erst spät zum Tragen, Sonderformen wie Nebula, den zum Intellektuellen mutierten grünen Hulk oder den sprechenden Waschbären einmal ausgenommen. Auch deren Ungewöhnlichkeit ist indes Thema im Film, nicht nur für Gags. Sobald nun die Zeitreisen erfolgt sind, kommt es zu einer Schlacht auf weitem Felde und die CGI-Programmierer dürfen all ihr Können auffahren. Da treffen Armeen aufeinander, die Peter Jackson zum Paten haben, und die Superhelden dürfen Superhelden sein, mit allen erforderlichen Special Effects. In der 3D-Version halten sich die Russos überdies angenehm zurück und setzen die Effekte anschaulich ein; in manchen Dialogsequenzen erscheint indes der weiter weg befindliche Kopf als größer, was etwas verwirrt. Ansonsten sind nicht nur die Weltraum- und Kampfbilder ansehnlich, auch die kunstvolle Einführung lässt sich sehen und verzichtet auf die allgegenwärtige, langweilige und gottlob lediglich auf dem Plakat angedeutete „Wer wird Millionär?“-Ästhetik in Lila, Blau und Rot. Die Bilder transportieren vielmehr die Tiefe, die die Figuren mitbringen, bevor es ans Gemetzel geht, das sich familientauglich blutlos hält.
Ausgesprochen positiv ist, wie selbstverständlich bei den Avengers Frauen und Nichtweiße gleichberechtigt nebeneinander agieren, und das sogar ohne, dass das überhaupt angesprochen wird: Es ist selbstverständlich. Die Russos treiben dies sogar auf die Spitze, indem einige weiße, männliche Protagonisten zum Ende ihren Staffelstab konsequent an Schwarze jeden Geschlechts weiterreichen. So geht das, danke. Überraschend ist der Cast: Während der Dreharbeiten muss halb Hollywood lahmgelegt gewesen sein, bei all den Stars, die hier mitmachen und deren Aufzählung hier nur verkniffen werden kann. Und gelungen sind auch die dezidiert eingesetzten Gags und Marvel-internen Aha-Effekte, die ungewöhnlich unpeinlich die Stimmung auflockern.
Negativ, wenn man so will, fällt nicht viel ins Gewicht. Man muss feststellen, dass der Film zwar abenteuerlich erzählt, aber dabei nicht wirklich Spannung aufbaut. Die Zeitreisen erfolgen halbwegs problemlos, die sich anschließende Schlacht ergibt sich nur folgerichtig. Da setzt aber das Zeitreiseparadoxon an: Man muss schon genau aufpassen, was da jetzt wann los ist und warum Thanos überhaupt tun kann, was er da tut. Und was passiert überhaupt mit Captain America? Lustig sind dramaturgische Unsinnigkeiten wie der Anruf einer einst gestorbenen Gattin, deren Handynummer der Anbieter fünf Jahre lang nicht stilllegte. Für Nicht-Marvelianer ist es zudem bisweilen schwierig, den Überblick über die Figuren zu behalten, muss man sich doch den Klarnamen und den Superheldennamen merken.
Das „Endgame“ ist ein Abenteuer, für das man gern drei Stunden lang im Kino sitzt. Die Zeit vergeht wie im Fluge, man fühlt sich gut unterhalten und trägt noch eine ganze Weile lang einige der Figuren im Herzen herum. Zum Marvel- oder Superhelden-Fan muss man deshalb nicht gleich werden, aber der Film funktioniert auch für sich sehr gut.