Von Matthias Bosenick (21.01.2016)
Bereits am 8. Januar stehen Song und Album des Jahres 2016 fest: Beides ist „Blackstar“ von David Bowie. Damit machte er sich und dem Rest der Welt ein schwer zu übertreffendes Geschenk. Außer ihm selbst wusste wohl niemand, dass es das letzte gewesen sein sollte; zwei Tage später war der nun Neunundsechzigjährige tot. Was für ein Abgang: So unkonventionell wie auf „Blackstar“ sind oft nicht mal seine jungen Epigonen. Mit dem Wissen um Bowies Ende mag man eine Todesahnung aus der Musik heraushören. Auch ohne ist „Blackstar“ ein Blick in die Zukunft, die wir nun nicht mehr erleben dürfen: Bowie pfeift auf Erwartungen und macht, worauf er Bock hat. Damit übertrifft „Blackstar“ den etwas gefälligen und fast langweiligen Vorgänger „The Next Day“ und ein Vielfaches. So hätte es weitergehen dürfen. Darf es aber nicht. Leider.
Nicht umsonst nannte man Bowie das Chamäleon, so oft, wie er sein Äußeres und auch seine Musik änderte. Er war ebenso unkonventionell, wie er auch konventionell sein konnte. Jeder Radiohörer kennt ihn, und gleichzeitig lieferte er Vorlagen für die absonderlichsten Indiemusiker. Oder arbeitete gleich mit ihnen zusammen oder coverte sie oder ließ sich von ihnen remixen. Besonders in den acht Jahren vor seinem gesundheitlich bedingten Rückzug 2003 zeigte er, wie weit sein Horizont war. Remixe von Nine Inch Nails; deren Trent Reznor spielte sogar im Video zu „I’m Afraid Of Americans“ eine beunruhigende Rolle. Gleichzeitig fertigten die Pet Shop Boys einen Mix von „Hello Spaceboy“ an. Weitere Remixer waren Air und Moby. Bowie coverte die Pixies und Neil Young, Jonathan Richman und Ronnie Spector, sogar Sigue Sigue Sputnik. Er förderte junge Musiker wie Placebo und Scarlett Johansson mit seiner Stimme als Beitrag zu ihren Songs. All das nahmen viele Leute gar nicht so richtig wahr, weil sie den gegenwärtigen Bowie längst von ihrem Monitor gewischt hatten. Es gab coolere Sachen im Indiebereich, dachten die einen, und Gefälligeres im Radio, glaubten die anderen. Das mag zutreffend sein, aber Bowie lieferte ansprechende Qualitätsmusik ab und bewies einen weiten Horizont.
Alles jubelte nun, als Bowie 2013 nach zehn Jahren Auszeit mit „The Next Day“ reüssierte. Das Album war ein Blick auf Bowies eigene Vergangenheit, er bediente sich in seinem bisherigen Leben und Oeuvre. Das war ganz fein, aber auf weiten Strecken eher öde, muss hier mal festgehalten sein. Den besten Track aus der Zeit lieferte James Murphy ab, der dieser Tage seine LCD Soundsystem reformierte, natürlich: Er remixte „Love Is Lost“ zu einem mehr als zehn Minuten langen, aufregend ungelenk klingenden Tanzbrocken. Eben jener James Murphy ist auch auf „Blackstar“ Gast, er bedient bei zwei Songs die Percussions. Das ist mal Luxus, Herr Bowie.
Und „Blackstar“ ist das Vermeiden von Erwartbarkeiten. Nach „The Next Day“ sah Bowie irgendwo einige junge Jazzmusiker spielen und heuerte sie spontan für den Song „Sue (Or In A Season Of Crime)“ an, der er der jüngsten Werkschau „Nothing Has Changed“ beifügte und der in einer neuen Fassung auch auf „Blackstar“ enthalten ist. Auf diesem Album sind auch diese Jazzer die maßgeblichen Musiker. Das Saxophon bekommt den freien Raum, den es schon in den Achtzigern bei Bowie hatte, und das Schlagzeug klingt satt und trocken wie eben auf modernen Jazzaufnahmen. Das allein ist schon mal geil. Und dann diese Songs, die nach herkömmlicher Ansicht meistens keine sind. Der Opener ist der bereits im November als zehn Minuten lange Single veröffentlichte Titelsong: beklemmende Hibbelrhythmik mit Elektroeffekten und eben Saxophon sowie einer düsteren Melodieführung und einem verletzlichen Gesang, nach der Hälfte in einen versöhnlichen Schunkler mündend, der jedoch von einer leicht schrägen Refrainzeile in einem Klammergriff des Unwohlseins gehalten wird. Inklusive Video ist dies wirklich einer der größten Songs seit Ewigkeiten.
„‚Tis A Pity She Was A Whore“ treibt mit schnellerem Rhythmus nach vorn, ohne ein Rocksong zu sein; dafür tirilieren die Saxophone zu avantgardistisch herum. „Lazarus“ kennt man als Folgesingle und unbewusst auch als Todesboten. Im Rückblick ist dies wohl Bowies deutlichster Fingerzeig auf sein baldiges Ende. In schleppendem Tempo groovt er sich mit – erneut – einem Saxophon um die Wette. Das bekannte „Sue (Or In A Season Of Crime)“ ist mit einem hektischen Drum-And-Bass-Beat unterlegt, wie schon weite Teile seines zu Unrecht gescholtenen Albums „Earthling“ aus dem Jahr 1997. Hier ist der Rhythmus aber von einem Schlagzeuger gespielt, nicht von einer Maschine. Die latent dissonanten Sounds drumherum stehen im Kontrast zur langsamen Singstimme Bowies. Das schwer groovende „Girl Loves Me“ könnte auszugsweise fast von einem modernen R’n’B-Vertreter sein, wäre das Schlagzeug nicht so fett und Bowies Stimme nicht so gut. Ab „Dollar Days“ klingt die Musik versöhnlicher, beinahe weich, warm und angenehm, wie immer mit dem freien Saxophon als Gast, ebenso das finale „I Can’t Give Everything Away“, das in seiner epischen Ausformulierung beinahe an Bowies „Absolute Beginners“ erinnert.
Und das war’s. Knapp 42 Minuten Bowie zum Abschied. Und jede Minute, jeder Moment so unendlich wertvoll. Das wäre das Album auch ohne Bowies Tod gewesen, denn nach der Nabelschau freute man sich, dass der Meister wieder in die Zukunft blickte. Da stand es zu erwarten, dass künftig wieder überraschende Musik von ihm kommen sollte. Wie diese. Kompromisslos und eigen. Über dem ganzen Album schwebt eine Stimme, so eindringlich und ausdrucksstark. So behält man das Chamäleon in Erinnerung.
Es ist schön, dass so viele Leute sich plötzlich so sperrige Songs wie „Lazarus“ oder „Blackstar“ anhören. Schade nur, dass dafür Bowie sterben musste. Denn gewiss ist, dass man „Blackstar“ so ähnlich ignoriert hätte wie seinerzeit die Alben ab „Earthlings“. Nun gut, so gerät endlich mal wieder gehaltvolle Musik in den Mainstream.
Bedenklich war, dass die limitierte Vinyl-Version des Albums an Bowies Todestag im Internet statt für 22 bis 30 Euro plötzlich für 60 bis über 300 Euro vertickt wurde. Schön sieht sie aus, die Gatefold-LP, mit einem Cut-Out-Stern als Cover, hinter dem die LP liegt, und einem zwölfzollgroßen Booklet mit wundervollen Bildern (es gibt eine rare Ausgabe in transparentem Vinyl, aber die ist wirklich unbezahlbar). Die Musik gibt’s per Code als Download. Wenn nun alles überall ausverkauft ist, auch im Café Riptide, zeigt die Erfahrung, dass man wertvolle Alben fast immer, manchmal auch Jahre später noch, in Wolfsburg findet. Erste Anlaufstelle von Braunschweig aus ist der Heinenkamp, der für die meisten Braunschweiger schon ein fremder Begriff ist: ein Gewerbegebiet an der A39, zum Wolfsburger Ortsteil Hattorf gehörend. Dort residiert unter anderem eine Elektrokette mit M. Der Ritt durch die Unterhaltungsartikelregalreihen offenbart, dass dieser Laden, anders als der in Braunschweig oder der Schwesterladen mit dem Planeten im Namen in Wolfsburg, keine Schallplatten zu führen scheint. Auf Nachfrage bestätigten Verkäufer dies: kein Vinyl hier. Auf dem Weg aus dem Fachgeschäft heraus fiel der Blick auf einen Stapel mit limitierten „Blackstar“-CDs in einer Pappschachtel und mit einem Pin für einen angemessenen Preis. Das erzeugte einen Interessenkonflikt: Dieses Ding hier kaufen oder es doch lieber in Wolfsburgs Innenstadt versuchen, die LP zu finden? Auf dem Nachbarstapel dann lagen die normalen Versionen der CD – und mitten darin klemmte die LP. Als einziges Exemplar. „Ach ja, die haben wir, genau einmal“, sagte eine Verkäuferin. Genau eine LP – und genau die gesuchte. Jetzt ist der Bestand wieder bei Null.