Von Matthias Bosenick (26.06.2012)
Vor „Valtari“ musste man als Sigur-Rós-Fan Angst haben. Nachdem sich Sigur Rós beständig und nachvollziehbar von der musikalisch schwer greifbaren, aber emotional mitreißenden Ambientband zur Tanzkapelle entwickelten, zerfaserten die Isländer. Denn nach dem bislang letzten Album „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ und der dazugehörigen Tour stoppte das Quartett 2008 die gemeinsamen Aktivitäten. Sänger Jónsi veröffentlichte danach ein leicht nerviges, wildes und stumpfes Solo-Album, die Band selbst mit „Inni“ einen rumpeligen Konzertmitschnitt von der letzten Tour. Sollte das der vorgegebene Weg der Band sein, musste „Valtari“ enttäuschen. Doch dann die Überraschung: „Valtari“ klingt mitnichten nach der Walze, die der Titel bedeutet, und macht musikalisch sogar einen Schritt um zehn Jahre zurück. Und wirft damit die Frage auf, wie relevant die Band dann noch ist.
Sigur Rós waren von Anfang an einzigartig. Teenager, die gedehnt und schleppend ihre E-Gitarre mit dem Geigenbogen bearbeiteten und eine BPM-Zahl nahe Bohren & die Club Of Gore vorlegten, die sich von einem Streichquartett begleiten ließen und die auf diese Weise atmosphärische Ambientmusik machten, die in ihrer Struktur zwar einige Hördurchläufe brauchte, um hängen zu bleiben, die dann aber nachhaltig die Gefühlswelt des Fans beeinflussen und sogar zum Positiven retten konnte. Obwohl man die Band nicht verstand – weil sie alternierend Isländisch und Vonlenska sang –, fühlte man sich verstanden. Emotionen brauchten keine Sprache. Diese starke und zeitgleich weiche Emotionalität entwickelten die Isländer weiter, ließen Krachausbrüche zu, zogen bei Bedarf das Tempo an und verschoben die Gefühlslage von melancholisch zu euphorisch. Das konnte man nachvollziehen, weil die persönliche emotionale Entwicklung nach Möglichkeit ähnlich verlief. Wer nach zehn Jahren immer noch in Depressionen schwelgt, sperrt sich wohl gegen Hilfe und dagegen, in seinem Leben etwas zu ändern. Sigur Rós änderten etwas, aber so, dass man mithalten konnte. Bis 2008.
2012 setzen Sigur Rós nun bei 2002 wieder an. „Valtari“ ist eine Stunde lang und hat acht Stücke. Keine Lieder, sondern Stücke. Man erkennt den Wechsel zwischen diesen Stücken daran, dass es für eine Weile ganz still wird, nicht nur still. Die Tracks bestehen aus Ambientflächen ohne sofort erfassbare Struktur. Die Soundteppiche, die vorher Amiina ausrollten, kommen jetzt offenbar aus Keyboards. „Valtari“ lullt ein, stört nicht, fordert die volle Konzentration oder taugt als Einschlafhilfe, je nachdem. Es erfüllt damit ungefähr die Verweigerungshaltung, die die Band seinerzeit mit „( )“ an den Tag legte, nachdem „Ágætis byrjun“ so überraschend ein Hit-Album wurde und die Band keine Lust darauf hatte. Das war für den Fan schwierig, aber mit der Zeit entschlüsselbar, und hatte doch bemerkenswerte Hits in Petto. Es besteht also die Möglichkeit, dass man auf „Valtari“ über Zeit auch Hits entdeckt. Unklar bleibt indes, was die Band denn mit einer neuerlichen Richtung wie „( )“ heute verweigern will. Den Erfolg hat sie ohnehin, den Erwartungsdruck der Fans auch, und den erfüllt und enttäuscht die Band nun mit einem Streich. Denn zwar ist „Valtari“ nicht so ein stinknormales Drone- oder Postrock-Album, wie „Inni“ es befürchten ließ, und auch kein so hemmungsloses Gezappel wie der Jónsi-Album „Go“, bringt stattdessen aber keinerlei Neuerung, wie es die Vorgängeralben noch taten. Tja. Rückschritt auf ein hohes Niveau, anstatt ein niedriges zu betreten – oder ein höheres zu erzeugen. Immerhin ist das Titelbild hübsch: Das schwebende Schiff trifft den Sound des Albums sehr gut.