Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Paganini und Philosophie

Von Onkel Rosebud/Alexander Rösler

An Virtuosen habe ich immer bewundert, dass sie etwas können. Ich selbst habe Philosophie studiert. Die Frage, auf die ich meistens antworten musste, lautete in etwa: Was willst Du denn damit mal machen? Paganini hat das sicher niemand gefragt. Er hat seine Geige ausgepackt und einfach gespielt. Das war Antwort genug. Und ich muss sagen, nach dem Spiel von Paganini hätte auch ich nichts mehr gefragt. Obwohl Philosophie darin besteht, zu jeder Selbstverständlichkeit noch eine Frage parat zu haben. Vielleicht habe ich mich deshalb schon früh für Philosophie interessiert, so mit sechzehn. Ich habe auch Geige gespielt, um das gleich mal zu verraten. Mit zehn Jahren habe ich angefangen und kannte zum Glück Paganini noch nicht. Heute denke ich, dass ich in dem Fall damals meine Kindervioline aus dem familiären Bestand gleich wieder in den Kasten gelegt hätte. Auf mein Interesse an Philosophie hätte das keine Auswirkungen gehabt. Im Gegenteil, manchmal bin ich der Meinung, ich hätte einfach noch früher damit angefangen. Diesmal wahrscheinlich, um Antworten zu finden.

Das schöne an Virtuosen ist, dass er keine Fragen hinterlässt. Er ist eine einzige Antwort. Als Zuhörer verstummt man einfach, ist beeindruckt, hält es nicht für möglich, wird abgelenkt und die Sinnfrage stellt sich nicht mehr. Obwohl – hier spricht der Philosoph – man sich ja schon fragen könnte, was es für einen Sinn hat, möglichst schnell und vertrackt über das Griffbrett einer Geige zu fegen. Doch das ist schon zu weit weg vom Virtuosen. Er ist reine Praxis, da hat Theorie keine große Chance. Das hat mich beeindruckt. Und vermutlich in die Arme großer Theorien getrieben.

Paganini war aber nicht nur am schnellsten von null beim viertelgestrichenen g, er hat auch die Violintechnik erweitert. Vieles, was man in den Capricen hören kann, konnte man vorher nicht auf der Geige hören. Das kam auch daher, dass Paganini Gitarre gespielt hat. In Variation 9 zupft er mit den linken Fingern, während er rechts mit dem Bogen streicht. Sensationell, aber eigentlich nur eine schlichte Übertragung. Das ist eine ziemlich gute Methode, die auch in der Philosophie funktioniert. Hegel mit den Mitteln der formalen Logik, Kant von der analytischen Philosophie aus, Heidegger und Zen …

Ganze Generationen von Doktorarbeiten sind so entstanden. Nur merkt man nichts, wenn man solche Arbeiten liest. In der Philosophie ist das einfach nur eine Masche. Bei Paganini nicht. Da hört man einfach, dass das klasse ist. Das ist der Unterschied.

Virtuosen sehen sich oft großen Angriffen ausgesetzt. Die Meinung ist dann die, dass sie zwar schnell sind und ganz beeindruckend, nur die Musik, die bleibt auf der Strecke. Auch da ist Paganini eine Ausnahme. Er hat eben auch komponiert, und da ist die 24. Caprice echt der Hit. Sie überzeugt auch musikalisch, vom Thema her. Die Variationen dazu sind vielleicht virtuoser Schnickschnack, aber sie können der Melodie nichts anhaben. Im Gegenteil, sie bringen sie auf einer anderen Ebene voll zur Entfaltung. Das haben auch die Kollegen von Paganini gemerkt und dieses Thema selbst weiterverarbeitet. Liszt zum Beispiel oder Schumann oder Brahms oder Boris Blacher. Also nicht die Schlechtesten. Heute, im Zeitalter von DJs und Re-Mixen, kann man das erst richtig verstehen. Alte Hits zu neuen Hits machen. Und das seit gut 200 Jahren. In der Philosophie macht man das ja auch, gerade wenn man Doktorarbeiten schreibt. Nur sind die sehr selten ein Hit. Aber immer eine Variation.

Richtig nervös bin ich geworden, als meine dritte Geigenlehrerin mir das Mato Perpetuo von Paganini quasi als Etüde zum Üben gegeben hat. Ich habe mich dahintergeklemmt und für meine Begriffe bin ich auch relativ weit gekommen. Nach zwei Dritteln musste ich aber immer abbrechen, weil mir einfach die Kraft ausging und ich meinem eigenen Tempo nicht mehr hinterherkam. Vermutlich war das der Übereifer. Zur Verbesserung hätte ich ein Metronom verwenden können, doch ging mir das Geklicke so auf die Nerven, dass ich es ohne schaffen müsste. Merkwürdigerweise hat meine Lehrerin das alles nicht so ernst genommen wie ich. Sie hat sich die Früchte meines Übens nur sporadisch angehört und nichts weiter in diese Richtung unternommen. Do da waren die Würfel bereits gefallen. Ich saß gerade über meinem Graecum, dem Latinum in Altgriechisch, von dem ich der Meinung war, dass man es als anständiger Philosoph haben müsste. Heute kann ich nur noch etwa zehn Wörter. Und das Alphabet.

Paganini hat eine schwere Kindheit gehabt. Der Vater war ein kleiner Kaufmann und hat den Sohn mit eiserner Strenge zum Üben gezwungen und öffentlich aufspielen lassen. Aus Rache ist er den Eltern davongerannt und reich geworden. Ich hatte ja auch eine schwere Kindheit, allerdings haben mich meine Eltern zu nicht besonders viel angetrieben. Und schon gar nicht öffentlich aufspielen lassen. Das wäre auch auf sie zurückgefallen. Paganini hat dann Kehlkopfschwindsucht bekommen und konnte sich nur noch im Süden aufhalten. Mir geht’s da vergleichsweise gut. Die Geige rühre ich allerdings eher selten an. Ich spiele jetzt Bratsche. Wie alle gescheiterten Geiger.

P.S.: Dieser Text erschien zuerst im Buch „Various Artists – Ich Liebe Musik“ (1999, notschriften Verlag) und wurde von Alexander Rösler über den Song Michael Rabin „Paganini Capricen Op. 1, Nr.24”, geschrieben.