The Russian Doctors – Das große Pratajev-Liederbuch II – Verlag Andreas Reiffer 2019

Von Matthias Bosenick (23.12.2019)

Sergeij Waschowitsch Pratajev war ein Zeitgenosse von Arnold Hau (mit mehr Gewicht auf „Genosse“ als auf „Zeit“), von ähnlicher Universalgelehrtheit, aber erst ein halbes Jahrhundert später von Holger Oley und Frank Bröker entdeckt. Dem trinkfesten Russen widmete das Entdeckerduo so manche Veröffentlichung, und die jüngste bündelt die von Pratajev inspirierten Texte zu den Alben, die es unter dem Namen The Russian Doctors zwischen 2013 und 2020 herausgebracht haben wird, versehen mit erläuternden Fußnoten. Eine handliche Reiselektüre, auch zur Wandergitarre.

Enthalten sind die Texte ab dem Album „Wiege deinen Rumpf“ aus dem Jahr 2013 bis hin zum noch in Produktion befindlichen Album mit dem Arbeitstitel „Die Schönen und die Bösen“, dessen Veröffentlichung für 2020 vorgesehen ist. Einige der Lieder basieren auf Gedichten von Pratajev, andere sind lediglich von ihm inspiriert; es ist davon auszugehen, dass jemand, der bis 1961 lebte, kein Wort wie „Girl“ verwendet haben würde und auch moderne technische Errungenschaften oder die Band Killing Joke eher nicht erlebte, es sei denn, er provozierte bewusst Anachronismen. Solches wiederum ist Oley und Bröker sehr gut zuzutrauen.

Denn der Erfindungsreichtum der beiden Autoren ist unermesslich: Dem Pratajev dichten sie seit 1997 so manche absurde Eigenschaft oder biografische Wendung an. Manches steuert so dicht am Möglichen entlang, dass die Erläuterungen authentisch und nach klassischer, jedoch nicht eben geradliniger Künstlerbiografie wirken, anderes kippt indes so sehr über das Absurde hinaus ins Alberne, dass die Übertreibung den Lacher verhindert. Schnell erwartet man nämlich das Groteske und misst es nur noch an seiner eigenen Erwartung. Dennoch, Pratajevs Leben bietet eine große Projektionsfläche für Eskapismus, Forscherdrang und Reiselust, ganz abgesehen von Alkoholdurst und sexueller Lust. All dies spiegelt sich, ansprechend minimalistisch und bisweilen mit mehrerlei Deutungsmöglichkeit versehen gedichtet, auch in seinen Texten wieder, die The Russian Doctors mit Vorliebe vertonen.

Von deren Spielfreude indes kann nur zeugen, wer auch die seit 2003 veröffentlichten Alben kennt; das Büchlein ist somit eher eine Trockenübung für die Fans, wenn nicht ein Appetithappen für Lyrikliebende. Man kann jedoch davon ausgehen, dass auch die Alben von hoher Qualität sind, schließlich tragen beide Beteiligten jahrzehntelange Erfahrung im Herzen. So ist Oley unter dem Alias Makarios der Kopf der noch in der DDR gestarteten Avantgardeband Die Art sowie diverser anderer musikalischer Gruppierungen, während der Emsländer Bröker alias Dr. Pichelstein ebenfalls musikalisch, aber auch schriftstellerisch tätig ist, unter anderem zur Thematik Eishockey, die sich auch einmal im Liederbuch niederschlägt. Gemeinsam betreiben die beiden außerdem das Musikprojekt Goldeck.

Kurzweilig und unterhaltsam ist dieses Liederbuch ganz gewisslich. „Hier war er noch nie“ ist jedenfalls eine großartige Grabinschrift, und wer Killing Joke zitiert, kann so schlecht nicht sein. Und doch: Arnold Hau war zuerst da!