Spezial: Addicted/noname Label aus Moskau, Teil 2

Von Matthias Bosenick (16.07.2019)

Einen ganzen Stapel CDs aus dem Oeuvre des Labels Addicted oder noname oder abhängig oder wasauchimmer aus Moskau schickte Anton Kitaev quer durch Osteuropa nach Braunschweig. Was da an Perlen in Sachen Psychedelik, Doom, Stoner, Prog und Experiment alles so drinsteckt, das ansonsten kaum den Weg in überregionale Lautsprecher findet! Ein zweiter Überblick, zwischen sechs Jahre alt und topaktuell:

Ciolkowska (Циолковская) – Avtomat Proshlogo – 2018

Sanfter als erwartet, aber nicht weniger nachdrücklich machen sich Ciolkowska aus St. Petersburg auf den trippigen Weg ins All. Die Stücke sind verschachtelt und dynamisch, aber nicht heavy, selbst wenn die Gitarren mal verzerrt sind. Den Drums liegt eine groovende Wucht inne, gelegentliche Einsätze von Flanger, Piano oder Maultrommel verleihen den Stücken überraschende Besonderheiten. Dabei ist der Dauereinsatz einer Ukulele doch schon besonders genug. Die Gesänge dazu sind alternierend auf Russisch oder textlos und fungieren vielmehr wie ein weiteres Instrument. Getragen swingend begleitet einen dieses Album in den Kosmos. Da will man dann gar nicht mehr wieder zurückkommen.

Disen Gage – The Big Adventure – 2019

Das war nach dem vorherigen Album „Nature“ nicht zu erwarten, dass aus der experimentellen Field-Music-Ambient-Gruppe nach 20 Jahren wieder eine echte Band würde, deren Musik indes maximal spinnert ist. Aber nicht zum Selbstzweck: Die Band ordnet die Elemente sinnvoll an, zumindest nachvollziehbar, nicht vorhersehbar. Ein Frank Zappa stand da sicherlich ebensosehr Pate wie ein Mike Patton. Disen Gage bleiben homogen in ihrer Heterogenität, nicht so chaotisch. „The Big Adventure“ klingt gereift. Die Moskauer nehmen Rock als Basis und reichern ihn mit abstrusen Instrumenten und Genres an: Mit Akkordeon und Trompete etwa gestalten sie Jazz, Reggae oder Latin. Ständig erwartet man beim Hören etwas Lächerliches, doch dazu kommt es nie. Das instrumental gehaltene Album funktioniert auf voller Länge. Am Ende fühlt man sich von diesem geordneten Mix sogar entspannt.

Jahroom – Cut-Price Goods + Nyx – 2016

Ist das noch Noise Rock? Die Moskauer Band Jahroom ordnet sich dort ein, aber das Doppelalbum „Cut-Price Gods + Nyx“ straft die Band Lügen, trotz der vielen Gäste aus der Moskauer Improvisations-Szene. Die können viel zu viel, um schnöden Lärm zu machen. Auf Postrock als Genrebezeichnung kann man sich grob einigen, frickelig, experimentell und avantgardistisch sind die zwei CDs auf jeden Fall. Die Musik ist druckvoll und lässt es zu, dass sie in Genres abkippt, die man gar nicht erwartet hätte: Disco, Surf, Funk. Ein gelegentlich eingesetztes Saxophon garniert die repetetiven Passagen, alles in allem bildet einen schönen Soundtrack für den gepflegten Eskapismus.

Matushka – Mestopolozhenie – 2013

Bei Matushka aus St. Petersburg handelt es sich allen Ernstes um lediglich zwei Musiker. Mag man gar nicht glauben, so dicht ist die Musik. Mindestens so dicht wie die beiden Musiker vermutlich, denn die drei überlangen Stücke auf „Mestopolozhenie“ (auf dem Cover fehlt allerdings das H) klingen derbe nach dem Genuss alternativer Genussmittel. Auf Basis gebrochener Rhythmen gniedeln sich die beiden psychedelisch rockend ab ins All, improvisieren, spielen Soli, driften ab, grooven herum, ufern aus, nehmen die Energie am Wegesrand auf und bekommen vermutlich demnächst Heißhunger auf Schokolade. Dabei spricht das Duo selbst von anderen Drogen, zumindest von „Acid Rock“, aber das ist sowohl Ansichts- als auch Geschmackssache. Wo ist die Telefonnummer vom Pizzabringdienst?

Mother Witch & Dead Water Ghosts – Ruins Of Faith – 2016

Bei „Ruins Of Faith“ handelt es sich wohl um das plakativste Werk dieser Runde. Ach ja, dieser Okkultismus, der muss im Doom einfach thematisiert werden, und natürlich finden sich vom Glauben nur noch Ruinen, fragt man die Bandwurmnamenband aus Odessa. Auch musikalisch bleibt die Band eher gewöhnlich und nah am Genre. Ihr schwerfälliger Doom-Sludge ist latent dudelig, Melodien und Strukturen sind reichlich vertraut. Einzig abweichend ist, dass hier eine Frau singt, und für etwas Eigenständigkeit streut die Band bisweilen unerwartete Breaks ein. So weit ganz nett, ja.

Torf/Sixpackgods/Thy Grave – Addicted Blues – 2014

Eine Split-CD mit drei Bands: Torf aus der Ukraine, Sixpackgods aus Finnland und Thy Grave aus Russland. Interessanterweise gelingt es einigen sogar, die titelgebende Musikrichtung einzubauen: Insbesondere Torf gestalten ihren rumpeligen Doom-Sludge auf Basis des Blues‘. Das Tempo der Mucke ist überraschend flott, der Gesang ist textlos, die Stücke sind abwechslungsreich und spacig und strotzen vor Energie. Torf machen gute Laune. Deutlich heavier sind die Sixpackgods, die eigentlich Loinen heißen und über ihren dröhnenden Doom ausufernd herumgrölen. Mehr Death Metal und mehr Melodie lassen zuletzt Thy Grave zu, die zwar das Tempo ins Schleppende drosseln, aber auch mal die Zügel locker lassen. Insgesamt bleiben Thy Grave noch am genretreuesten. Dem Slipcase der CD liegt übrigens ein Sticker bei.

Transnadežnost‘ – Monomyth – 2018

„Monomyth“ eignet sich besonders gut, wenn man bekifft ist. Oder es werden will. Selbstredend handelt es sich hier im Stoner Rock, aber einen auf dem Blues basierenden, der den Hörer reichlich spacig in Trance versetzt. Man könnte es Unhard Rock nennen: Die St. Petersburger setzen ihre unverzerrten Gitarren dezent ein, verzichten auf Gesang, dafür umso weniger auf Hall und Echo. Vor dem letztgültigen Wegdriften verwirrt die Band noch hier und da mit kurzen Ausbrüchen, frickeligen Passagen sowie knappem Einsatz von Kuhglocke oder Trompete, dann tritt die Gemeinschaft aus Musikern und Zuhörern den chilligen Weg in den Kosmos an. Und wer William Blake zitiert, bekommt sowieso schon mal etwas mehr Aufmerksamkeit.

Злурад – Во благо злу – 2019

Das ist brutaler Stress! Und das auch noch „Zum Wohle des Bösen“, wie der Titel „Во благо злу“ der Band Злурад (Zlurad) aus Moskau übersetzt heißt. Geschrei, Punk, Polka, Free Jazz, geil dröhnender und pumpender Bass, eine Trompete alternierend im Stakkato oder im puren Vuvuzela-Tröt, Fiepen, Wimmern – all das ergibt ein noisiges Durcheinander, das lediglich vom konstanten Rhythmus Struktur erhält. Das Album klingt wie eine Party, die ins Desaster kippt, oder wie Comedy für Depressive. Macht also einen Riesenspaß!

Juice Oh Yeah – Sila Vselennoy – 2013

Ein Duo! Nur. Unfassbar, bei dem Stoner Rock, den Juice Oh Yeah auf ihrem Debüt kredenzen. Zumindest sprechen die Moskauer von diesem Genre, aber sie gestalten es gottlob nach eigenem Gusto: Der Bottleneck auf den Saiten steuert etwas latent Schräges bei, dezidiert setzen sie eine Kuhglocke ein, der russische Gesang hat etwas Sakrales. Juice Oh Yeah lassen sich Zeit beim Aufbau ihrer Tracks: Sie wiegen die Hörer zunächst in Sicherheit und brechen dann unvermittelt los, in Tempo und Intensität. Sie fahren die Stücke nicht permanent unter Volllast, sondern lassen viele spacige Passagen zu. Raffinierte Wendungen wie knapp eingestreute Folklorepassagen oder abruptes Gegniedel lockern die Stücke auf. Superspannende Qualitätsmusik, daran ändert auch die etwas dumpfe Produktion nichts.

Spaceking – In The Court Of The Spaceking – 2013

Eine schiere Wundertüte schnüren Spaceking aus St. Petersburg mit ihrem King Crimson zitierenden Album „In The Court Of The Spaceking“. Ein zweites Album heißt frei nach Pink Floyd „The Piper At The Gates Of Stone“, aber beide Referenzen führen nur in die Irre. Das Album beginnt instrumental mit einem melodiereichen Metal-Brett, driftet in Richtung Stoner, lässt Platz für ein Didgeridoo und nagelt zwischen die Metal-Bretter flauschige Teppiche. Stimmen ertönen alsbald als gesprochene Samples, bis in der Albummitte plötzlich einmalig rauher Gesang einsetzt. Achtziger-Metal-Soli und andere überraschende Elemente lassen das Album beinahe wie einen Sampler wirken, so abwechslungsreich musiziert der Spaceking. Und à propos Space, natürlich lässt die Musik Ahnungen vom Kiffen zu. Ein warmes Album, trotz der Härte. Grandios!