Judith Parts – Meadowsweet – Judith Parts 2023

Von Matthias Bosenick (20.06.2023)

Eine Musik wie diese kann nur aus Skandinavien kommen. Von Kopenhagen aus produziert die Estin Judith Parts dieser Tage ihre fragilen Stücke, mit einem elfengleichen klaren Gesang und zurückhaltenden Electro-Experimenten. Erinnerungen an Under Byen, Jomi Massage, Stina Nordenstam und Björk winken aus der Nähe. Nicht nur karge Elektronik und Field Recordings, auch klassische Instrumente wie Cello und Trompete setzt Parts, Ex-Sängerin der estnischen Band Nebula Flowers, ein – nicht alles spielt sie selbst, sie hat Freunde – und generiert daraus ein Debüt-Album, das vordergründig zerbrechlich wirkt, teilweise Anflüge von Soundtracks zu nordischen Filmdramen trägt und in seiner Tiefe sehr experimentierfreudig und minimalistisch vielschichtig ist.

Den Einstieg in dieses Album erleichtert, dass Parts im eröffnenden Titelstück klar eine nachvollziehbare Melodie vorträgt – die Musik darunter hingegen erfüllt keine leicht zugänglichen Aspekte: Es knistert, raschelt, schabt, ein Synthie lässt einen einzelnen variierenden Ton erklingen. Im zweiten Song „Underwater Love“ versieht sie ihre Stimme teilweise mit einem Vocoder-Effekt, den Laurie Anderson auch in „O Superman“ zur Anwendung brachte, dazu lässt sie dezidiert Geräusche los, Wabern, Klacken, Klickern, Glitches. Erst in Stück drei, dem nach ihrer Wahlheimat benannten Instrumental „København“, erklingt so etwas wie herkömmliche Musik, ein Piano, über den inzwischen vertrauten Knistersounds dezent getupft. „November“ klingt genau so, ein spukendes Stück Kammermusik, mit hochtönigen Störgeräuschen im Hintergrund, wie wahlweise aus einem Thriller oder einem dunklen skandinavischen Drama, „Samsø“ setzt die nebulöse Stimmung mit etwas Piano fort, man wähnt sich in einer finsteren Herbstnacht auf der titelgebenden Ostseeinsel eingesperrt und vom Festland abgeschnitten.

In „Family“ nimmt Parts das Songorientierte wieder auf, steigert es im martialisch betitelten „Burn Like Witches“ sogar, bleibt dabei musikalisch karg und fragmentarisch und leitet in das mit Experimentalsounds unterlegte Spoken-Word-Stück „Intro I“ über, das trotz des Index‘ im Titel keine Fortsetzung bekommt. Plötzlich bricht „Nettle Field“ los, das erste und auch gleich letzte Stück mit Percussion oder Schlagzeug, eher wie im Industrial eingesetzt, alptraumartig verschleppt, mit Sirenensounds zu Cher-Vocoder-Effekten. „Apple Tree“ knistert zunächst, dann zerhackt Parts ihre Stimme, ungefähr so, wie man es von Nac/Hut Report kennt, bevor sie das Stück dann doch zum Lied werden lässt und verhalten singt, fast wie Jarboe in den dunkelsten Momenten der Swans. Eine geisterhafte Trompete erklingt aus einer verlassenen Kirche hinter ihr, die Orgel funktioniert noch und begleitet das finale „Spell“, das einmal mehr genau so klingt, wie es heißt, nämlich verwunschen, mit Sounds, die aus dem Swedenborg-Raum herüberklingen, und einem Sirenengesang. Und einem als abrupt empfundenen Ende, das die Hörenden aus dem Nebel in die Realität zurückspuckt.

Auf ihrer Debüt-EP „UDU“ war Parts im Jahre 2020 noch eher klassisch orientiert, da überwog die Kammermusik über dem Experiment, das sie auf „Meadowsweet“ erst so richtig auslebt. Das Stück „Udu“ selbst performte Parts bereits mit ihrer kurzlebigen Band Nebula Flowers, die sie in Estland als Trio betrieb. Nebenbei und überhaupt komponiert Parts viel Musik für Tanzperformances und Kunstausstellungen und produzierte ein Album für die estnische Musikern Maris Pihlap. Auf „Meadowsweet“, benannt nach der in Nordeuropa verbreiteten Pflanze Echtes Mädesüß, befasst sich Parts von ihrer dänischen Wahlheimat aus mit ihren estnischen Wurzeln. Nicht komplett allein: Das Cello spielt Ida Nørby, die Trompete Ben Rodney. Und das sind nicht die einzigen Mitmischenden: Ganz im Sinne ihrer künstlerischen Aktivitäten, sprengen die anderen Gäste den rein akustischen Rahmen. Das Coverfoto schoss Todd Richter, und das Motiv ist nicht einfach ein Schnappschuss am Strand mit Sand an den Fingern und komischem Behänge, sondern komplett durchgestylt: Claudia Lepik ist als Schmuckkünstlerin und Art Director aufgeführt, Stilistin ist Liisa-Chrislin Saleh, die Kleidung gestalteten Crystal Rabbit & Ron Verlin und das Grafikdesign der Schallplatte, die daraus wurde, stammt von Mari Möldre. Kammamasehn. Damit ist „Meadowsweet“ als Gesamtkonzept weit mehr als nur ein Album mit Musik, und dann auch noch mit so besonderer.