Goethes Erben – Flüchtige Küsse – Dryland Records 2020

Von Matthias Bosenick (12.10.2020)

Wer alles von Goethes Erben hat, hält einen sehr variablen musikalischen Schatz in den Händen: Zwei Jahre nach dem eher bandorientierten Album „Am Abgrund“ überrascht Oswald Henke, einzig konstanter Kopf der Erben, mit der klassisch instrumentierten Live-Doppel-LP „Flüchtige Küsse“ mit ausschließlich neuen Stücken. Henkes Lyrik – der Bandname kommt schließlich nicht von Ungefähr – ist darauf ausschließlich von Flügel und Cello begleitet. Seine Mitmusiker wählte der Dichter mit bedacht: Man hätte nicht gedacht, dass derartig reduziert gestaltete Musik so voluminös und dicht klingt. Und: Der ansonsten für sein rezitatives Sprechen gefeierte Henke singt! Gelegentlich.

Pianist Sebastian Boettcher lässt keine Leerstellen. So, wie er in die Tasten hämmert und dabei den Fuß vom Bremspedal nimmt, kommt im Verlauf der einstündigen Platte niemals der Gedanke auf, eine komplette Band hätte die Stücke vielleicht besser begleitet; selbst in den vielen stilleren und getrageneren Momenten entsteht keine Leere. Zumal der Mann am Flügel auch gar nicht allein ist, schließlich fügt Letzte-Instanz-Cellist Benni „Cellini“ Gerlach per Handstreich Atmosphären hinzu, die den Sound nur umso mehr verdichten, aber niemals überfrachten. Die beiden Musiker lassen nichts vermissen, und trotzdem immer hinreichend Raum für Henkes Stimme.

Und seine Inhalte: Henke war schon immer Antifaschist, Soziologe, Psychologe und Romantiker, und was er heute, anders als vor 30 Jahren, als er mit Goethes Erben startete, hingegen nicht mehr transportiert, ist lediglich die Todessehnsucht, die dem Genre, das er seinerzeit mit Das Ich etablierte, nicht umsonst den Namen Neue Deutsche Todeskunst verlieh. Ebenfalls schon immer war Henke ein Theaterperformer, nicht einfach nur ein Bandboss oder Leadsänger (das sowieso nicht), wenngleich er seine Fähigkeit zum Gesang auf diesem Album einige kleine male tatsächlich zum Ausdruck bringt, was nicht nur ihm sehr gut steht, sondern auch den Songs, die auch ohne catchy Melodien überraschend eingängig sind, mit aber nur noch mehr. Das muss man sich mal ausdenken: Henke gelingt auf „Flüchtige Küsse“ eine Theaterperformance bei einem Kammerkonzert. So geht das.

Ist das nicht gruftig? Ja, das ist nicht gruftig: In der Tat ist es bedauerlich, dass ein Projekt wie Goethes Erben außerhalb der Dunkel-und-düster-Szene offenbar kaum Resonanz erfährt, denn eigentlich ist Henkes Output für die Schwarzkittel überwiegend viel zu anspruchsvoll. Natürlich starteten die Erben im Dark-Wave-Kontext, doch wagte Henke schon recht bald musikalische Sprünge in unerwartete Richtungen, denen der handelsübliche Grufti nicht zu folgen bereit war. Henke fordert zum Denken heraus und eher selten zum Drei-Schritte-vor-und-zwei-Zurück der Gothic-Clubs. Wer trotzdem drangeblieben ist und Henkes diversen Aliassen und Inkarnationen goutierte, fühlte sich auch stets dafür belohnt. Und so ist es auch mit „Flüchtige Küsse“.

Interessant ist, wie sich die Wahrnehmung von Goethes Erben verändert, wenn man Henke auch nur einmal live erleben durfte. War zuvor der Anschein eines im Wortsinne todernsten Dramatikers entstanden, offenbart der Künstler auf der Bühne einen unerwarteten Humor. Mit diesem Aspekt im Hinterkopf lesen sich seine Texte dann etwas anders, und auch rezipiert man seine Musik mit einem mitgedachten Augenzwinkern. Was nichts an Henkes Seriosität ändert, ihn aber in der Wahrnehmung etwas auf den Boden holt und was sogar die Freude an seinen Platten erhöht. Gottlob: So dramatisch ist es nun doch nicht mit ihm, auch wenn in seinen Themen – darunter hier etwa Verzweiflung, über Leichen gehende Machtmenschen, gebrochene Herzen – eine erhebliche Ernsthaftigkeit liegt.

Schnellbesteller hatten die Chance, das Doppel-Vinyl in Gold zu erhalten, allen anderen steht es immerhin in Schwarz zur Verfügung. Oder als CD, nicht aber als Stream oder Download: Goethes Erben gibt es nicht digital, betont Henke immer wieder, nachdem er zu Beginn der mp3-Tauschbörsen erschütternde Erfahrungen mit ignoranten Fans machte. Immerhin, nie wieder überhaupt Tonträger zu veröffentlichen wie er damals ankündigte, hielt er dann doch nicht durch, und das ist gut so.