Freiwillige Selbstkontrolle – Topsy-Turvy – Buback 2023

Von Matthias Bosenick (17.01.2024)

Wie man das Abseitige und das Eingängige wundervoll in Einklang bringt, belegt die Freiwillige Selbstkontrolle immer wieder und so auch auf dem neuen Album „Topsy-Turvy“. Niemals ist ein Song der Münchener Institution auch nur ansatzweise vorhersehbar, niemals folgt die Komposition vertrauten Mustern, und doch sind die acht neuen Stücke herzerwärmend und eingängig. Und trotz einer 43 Jahre andauernden Erfahrung wirken ausgewählte Elemente auf eine einnehmende Weise amateurhaft, wenn mal ein Percussionbeat minimal dem Takt nachschlägt, der Chorsprechgesang wie von einer Laienschauspieltruppe vorgetragen wirkt oder der Gesang um einen Halbton die eingeschlagene Melodie verfehlt, aber scheiß drauf, oder besser: richtig so, glattgebügelt kann jeder, „Topsy-Turvy“ hat Seele und Charakter, obendrauf politische Haltung und Humor – und ist in keine Schublade einzuordnen. Ja, verdammt: Das ist Kunst!

Synthies, Klavier, natürlich Gitarre, Bass und Schlagzeug, kurioses Percussionzeug, viel Stimme, auch mal Cello, Posaune und Trompete, schon die Instrumentenzusammenstellung lässt keine wirklichen Rückschlüsse darauf zu, was für eine Musik die Freiwillige Selbstkontrolle, wie sich die um 1989 in F.S.K. umbenannte Band hier wieder nennt, auf dem Album zusammenstellt. Das ändert sich erfreulicherweise auch nicht, wenn man es hört. Was ist das im Opener „Das Parlament der Dinge“ überhaupt für ein Rhythmus? Bass-Bass-Bass-Bass-Snare-Becken-Becken-Becken? Und schon ist man mittendrin im besten F.S.K.-Groove, den die Band auf Albumstrecke fortwährend variiert und in alle sonstwie experimentellen Angelegenheiten integriert, um wahlweise sich selbst und die Hörenden mitzureißen. Was die Band dann auch damit vollführt, dass nach anfänglichen Parolenzitaten im Eröffnungsstück ein Synthie einen weichen Teppich ausrollt, eine dezente Funk-Gitarre hinzutritt und der Song ein schöner politischer Schunkler wird, „um fünf nach zwölf“.

Eine Art Wikipedia-Vortrag, dargeboten in einer an Frank Spilker erinnernden Zwei-Ton-Melodie, über den „Shoah“-Regisseur „Claude Lanzmann (und sein Bruder)“ folgt. Unterlegt ist der Text mit einer schleppenden Percussion, bald thematisch passend abgelöst von filmorchestraler Opulenz. Zuletzt fährt die Band die Wucht zurück und lässt ein frei kratzendes Cello an die Stelle der Stimme treten. In „Stirn Zeigen“ kommt der alte Punk nochmal durch, zumindest im Ausdruck, in allein und im Chor gebellten Parolen, die inhaltlich den Titel mehrdeuten, einmal auf Frisuren bezogen, zum anderen auf politische Haltung. Das Stück beginnt vom Schlagzeug dominiert, zur Mitte macht das Keyboard daraus einen handgespielten Technotrack – mit Boogie-Piano. Das Quasi-Titellied „It’s A Topsy-Turvy World“ ist ein gesprochenes Cut-Up, eine fragmentarische mehrsprachige Zitatesammlung, das Lied darunter sanfter Pop, mit watteweichen Synthies, diversen Percussion-Spielereien, minimalistischer Gitarrenmelodie und Krautrock-Beat. Man will alles verstehen, was man hört, kann es nicht inhaltlich erfassen, schließt es aber dennoch dringend ins Herz.

Ebenso abgehangen groovend beginnt die B-Seite – das Album gibt’s physisch ausschließlich auf Vinyl – mit „Home Office“, das zunächst mit Orgel und pulsierendem Basslauf auf einem dezenten Country-Rhythmus die Hörenden sanft einnimmt, um das Stück dann abrupt mit drübergelegten Freejazzpiano und -trompete in eine völlig unerwartete, aber absolut überzeugende Richtung zu wenden. In „Kaufhalle Revisited“ bedienen sich F.S.K. bei sich selbst und übertragen ihre 1981 auf der 7“ „Teilnehmende Beobachtung“ veröffentlichte heute noch gültige Konsumkritik auf die Gegenwart. Minimalistisch ist die Musik geblieben, indes handgespielt, mit leisem Schlagzeug und lediglich einigen Geräuschen statt irgendwelchen Melodien, die eine Liturgie des Kapitalismus‘ transportieren, über die man alsbald lachen muss, so absurd ist sie in ihrer Treffsicherheit: „Ein entschiedenes Nein zu Hertie!“

Ein elektronisch begleitetes Landschaftsbild einer Gegend im Odenwald stellt „Amorbach“ dar, benannt nach der Lieblingsstadt von Theodor W. Adorno. Wer, nebenbei, weiß schon, wofür das „W.“ in „Theodor W. Adorno“ steht? „Wiesengrund“, sprechsingen F.S.K., und nennen den Philosophen aus Frankfurt am Main kumpelhaft „Teddy“, während sie beschreiben, wie er mit seinen „zwei Müttern“ einen Berg besteigt. Mit der Frage „Wer hat die Kokosnuss geklaut“ beginnen F.S.K. das letzte Stück „Digital Benin (November 2022)“, das den Umgang mit kolonialer Raubkunst behandelt und seinerseits eine Art kulturellen Raub begeht: Ein Afrobeat dominiert diesen skandierten politischen Aufruf, zu dem man immer noch tanzen kann.

Die Freiwillige Selbstkontrolle hat keine Geheimnisse. Auf ihrer Bandcamp-Seite veröffentlicht die Band Infos und Hintergründe zu allen Songs und zur eigenen Biografie, was einen transparenten Kontrast setzt zur scheinbar verrätselten Platte. F.S.K. sind seit 1980 in Originalbesetzung zusammen, das sind, und hier kann man die Info direkt übernehmen: „Justin Hoffmann an Keyboards und Gitarre, Thomas Meinecke an Gitarren, Kornett und Drum Pads, Michaela Melián an Bass und Cello, Wilfried Petzi an Gitarre, Mandoline und Posaune. Seit 1990 gibt es als fünftes festes Mitglied den Schlagzeuger Carl Oesterhelt, der die Drum Machine ersetzte und als einziger im Line-up nicht auch singt.“ Alle fünf sind nebenbei bis hauptberuflich auch anderweitig aktiv: Michaela Melián als bildende Künstlerin, Thomas Meinecke als Schriftsteller, Wilfried Petzi als Fotograf, Carl Oesterhelt als Komponist und Justin Hoffmann als Leiter des Kunstvereins Wolfsburg.

„Topsy-Turvy“ ist das erste Lebenszeichen von F.S.K. auf Tonträger seit dem 2017er Live-Album mit dem begnadeten Titel „Ein Haufen Scheiß und ein zertrümmertes Klavier“, das letzte Studioalbum „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ ist bereits aus dem Jahr 2012. Davor unternahm die Band zahllose stilistische Ausflüge, auf denen sie sich nie festlegte, über analogen Techno, Post-Punk, US-Folklore bis hin ins Studio des DJ-Helden John Peel. Das Konzept, Vorhandenes zu zerlegen und für sich neu zu nutzen, behalten F.S.K. auch auf „Topsy-Turvy“ bei, das man mit allem künstlerischen Anspruch, mit allen edukativ vermittelten Inhalten und mit aller pseudo-dilettantischer Schrägheit tanzend liebt.