Ethernet Orchestra – Diaspora – Pueblo Nuevo 2014

Von Matthias Bosenick (29.12.2014)

Dieser Text ist auch in Stefanie Krauses Magazin Kult-Tour Braunschweig veröffentlicht.

Uha, die wissen, wie man Angst und Beklommenheit in Musik verpackt, und das auch nur nebenbei, unbeabsichtigt. Das Ethernet Orchestra improvisiert sich live mit internationaler Besetzung eine Musik zurecht, die von Formatradiohörern als solche sicherlich nicht mehr zu erkennen ist. Rhythmen entstehen, wenn überhaupt, dann nur rein zufällig, Melodien beinahe gar nicht, stattdessen flirren Sounds aus allen erdenklichen Quellen umeinander herum: Trompete, arabische Percussion, Obertongesang, Drones, Samples, Singende Säge, Gesang, diverse Saiteninstrumente, Field Recordings und vieles mehr, das man als Laie nicht einmal zu erkennen vermag. Zum vollständigen Genuss ist es vermutlich nicht unerheblich, zu wissen, wie die Stücke entstanden sind: live und virtuell nämlich, per Internet vernetzt, als vom Orchester so genante Tele-Improvisation. Damit ist in gewisser Weise weniger das Ergebnis als vielmehr die Entstehung die Besonderheit an „Diaspora“.

Wer die Vorführung „Der Flug der Seeschwalbe“ der blackhole-factory Anfang des Jahres in der Braunschweiger Kunstmühle besuchte, erhielt eine Idee davon, wie das Ethernet Orchestra arbeitet, denn daran waren einige der Mitglieder beteiligt. Die Shows beschränken sich nicht allein darauf, dass die hochprofessionellen Musiker weltweit zu Hause per Internet zugeschaltet ihre Kunst improvisieren, sondern dass das Ganze auch noch visuell ergänzt wird. Man sieht auf Leinwänden, wie die Beteiligten etwa auf Sound- und Film-Datenbanken zugreifen und die entsprechenden Samples und Field Recordings in die Improvisation einfließen lassen.

Die sich daraus ergebende Musik ist mindestens verstörend. Wer sie nur nebenbei hört, weil sie eher Fläche als Kontur kreiert, könnte bald genervt, wenn nicht sogar vergrault sein. Wer sich aber darauf konzentriert, bekommt ein Füllhorn an Atmosphären, die zu unendlichen Wanderungen in finsteren, undurchdringlichen Landschaften einladen. Für Schubladenfreunde bietet sich bestenfalls die Kategorie Industrial-Ambient-Freejazz-Worldmusic an; für Unerschütterliche kann das Album womöglich sogar entspannend wirken.

Wer die diversen Projekte von Hugo Race verfolgt und goutiert, ist auf das Ethernet Orchestra zumindest gut vorbereitet. So unglaubwürdig es nach den vorangehenden Beschreibungen auch klingen mag: „Diaspora“ macht nämlich Spaß. Gerade, weil es so viel zu entdecken gibt. Die Stücke sind auf den ersten Eindruck für Unvorbereitete vielleicht nicht wirklich voneinander zu unterscheiden, doch bieten sie bei genauer Betrachtung eine Vielzahl an zumeist dunklen Stimmungen, Sounds und Atmosphären, in denen man sich als aufgeschlossener Soundentdecker mit wohligem Schauer verlieren kann. Sicher, einfach macht es einem das Ethernet Orchestra dabei nicht.

Daran beteiligt sind auch die Braunschweiger Elke Utermöhlen (mit ihrer an Lisa Gerrard erinnernden Stimme und Elektro-Sounds) und Martin Slawig (Elektronik und Percussion), die auch die blackhole-factory ergeben. Der australische Jazz-Trompeter Roger Mills fungiert hier zusätzlich als Produzent. Weitere Musiker sind: Gitarrist Mark Francombe aus Norwegen, Bukhchuluun Ganburged aus der Mongolei mit Obertongesang und dem Saiteninstrument Morin Khuur, der 2011 verstorbene US-Amerikaner Richard Lainhard am 70er-Jahre-Synthesizer Buchla 200E, dem Midi-Controller Haken Audio Continuum und der Gitarre, der Franzose Hervé Perez am Sopransaxophon und mit Elektronik, Shaun Premnath aus Malaysia an der Tabla, Peyman Sayyadi und Aref Toloei aus dem Iran an den Saiteninstrumenten Tanbur und Tar, Yavuz Uydu aus der Türkei an der Oud und am Saiteninstrument Bendir sowie Chris Vine aus Brasilien an der Gitarre.

Das chilenische Online-Label Pueblo Nuevo veröffentlichte diese einstündige Compilation aus Improvisationen der Jahre 2009 bis 2014 zum kostenlosen Download. Wer sich im Winter nachts in dunklen Räumen verlieren will, wird hier bestens bedient. „Diaspora“ erweitert den musikalischen Horizont. Bei der Musik mag man es gar nicht glauben, dass man es zumeist mit gelassenen, sympathischen, humorvollen und lebenslustigen Menschen zu tun hat. So kann man sich angenehm täuschen.