Crabe – Visite du temple inné – Les Disques Dure Vie 2023

Von Matthias Bosenick (18.10.2023)

Eine Vorstellung, die hämisch kichern lässt: Leute hören den Song „Je ne peux pas te dire je t’aime“, der an fröhliche Neo-Folk-Popsongs à la Momford & Sons erinnert, und kaufen sich das dazugehörige Album „Visite du temple inné“ des Duos Crabe aus Montréal. Und bekommen den Gegenentwurf zu Teenage-Wohlfühl-Indie-Tralala um die Ohren geschallert, dass diese nur so bluten: Ein aufgekratzt auf der Basis von Punk durchgedrehter Mix aus Mathcore, Metal, Kirmes, Synthiezeug, Swing, Pop und lauter unbenennbaren Elementen, die deshalb unbenennbar sind, weil es für so einen kreativen Krach einfach noch keine Bezeichnungen gibt. Das offenbar achte Album von Crabe ist ein vertontes Kettenkarussell, das irrsinnig eiernd auf einem unsortierten Schrottplatz rotiert. Mon dieu!

So geht das mit dem Punkrock, er kann eine schöne Ausgangsbasis sein für allerlei Schabernack, für den man eine Menge Ahnung haben muss, um ihn überzeugend zu treiben. Im Falle von Crabe befähigt er dazu, einen Lärm zu generieren, der aus punkfernsten Quellen gespeist wird und trotzdem funktioniert. Die Musiker wissen, was sie tun und was sie können, und wenden es gewinnbringend an – insofern, als dass man hörend hintenüberfällt ob der Sprünge, Brüche und Exzesse auf diesem Album.

Stellenweise fühlt man sich etwa an die abgedrehten Tracks von Düreforsögs Debütalbum „Knee“ erinnert, das vergleichbar flink Haken schlug zwischen Metal, Kirmes und anderen Unvorhersehbarkeiten. Eine Verwandtschaft zu Mike Pattons Experimenten oder dem Chaos von Sleepytime Gorilla Museum lässt sich ebenfalls nicht verleugnen, und letztlich führt ja alles, was musikalisch ungerade Wege verfolgt, auf Frank Zappa zurück. Natürlich sind Crabe moderner, noch schneller, noch verwegener, noch kompromissloser, noch brutaler, noch weniger dazu bereit, Zugeständnisse zu machen und Erwartungen zu erfüllen, nicht einmal die, die sie selbst aufkeimen lassen: Hat man sich an eine Richtung gewöhnt, bricht das Duo unvermittelt ab und schlägt einen anderen Weg ein.

Da kann ein Track mit irgendeiner Sorte Punk beginnen, dann klappert und klöppelt es plötzlich. Ein anderer Track startet als synthetische Ambient-Fläche und wird zum bedrohlichen Electro-Orchester-Doom. Ein Stück startet mit Scratching wie beim Hip Hop, elektronische Elemente finden sich ohnehin überall, der Schwenk vom Punk zum Metal fällt den beiden Musizierenden leicht, ein Vocoder wie im Charts-Pop verschreckt, und trotz allen Lärms wissen Crabe, wie man Schönheit erzeugt, etwa die angeschrägten Passagen in „Pourquoi“. Und dann ragt da in der Mitte der merkwürdige, an die Landsleute Shred Kelly erinnernde Folk-Pop-Song „Je ne peux pas te dire je t’aime“ hervor, der sowas von gar nicht auf die Platte passen will.

Crabe starteten 2009 noch als Trio und sind auf „Visite du temple inné“ zum Duo geschrumpft. Übrig bleiben Mertin Hoëk (oder auch Mertin Poulin-Légaré) und Gabriel Lapierre, die beide noch in unzählbar vielen anderen Bands spielen. Und hier einen Stapel befreundeter Mitmachender auflisten, auf Französisch gegenderte Freund*innen, nämlich „ami.es mentionné.es“, wie die Singer-Songwriterinnen N Nao (Naomie de Lorimier) und Annie-Claude Deschênes, die Band Belle Grand Fille, den Multiinstrumentalisten Simone Provencher und den Glamrockstar Hubert Lenoir, der auch schon auf dem Vorgängeralbum zu hören war, hier mit Vocoder.

Geiles Zeug, was die Kanadier hier vorbringen! Und doch braucht man hinterher erstmal etwas Musik mit einer Struktur, die man einigermaßen nachvollziehen kann. Etwas von John Zorn vielleicht?