Von Onkel Rosebud (25.04.2023)
Einer meiner besten Freunde und meine seit über 20 Jahren im Verkehr befindliche Tochter haben gemeinsam, dass sie eine Wollmütze mit „YLT“-Initialen besitzen. Als sie zu Hause auszog, hat sie heimlich drei Dinge von mir mitgehen lassen. Neben meiner gestrickten Yo-La-Tengo-Haupthaarbedeckung, die Schallplatte „To Bring You My Love“ von PJ Harvey und ein schweres Schraubdings aus Edelstahl, wo man kleine, sehr persönliche Dinge reintun oder einem Einbrecher eine schwere Kopfverletzung zufügen kann. Ich toleriere das, weil keiner der über 30 Tonträger, die ich von der Formation aus Hoboken besitze, dabei war. Die sind mir heilig. Ich halte die Band für die Quintessenz des Indierocks und gönne ihnen, dass der kommerzielle Erfolg mit ihrer Musik seit fast 40 Jahren ausbleibt, weil nur ausgewählte, kaltherzige, geschmackssichere Dödel wie ich ihre Gassenhauer mitsummen sollen und nicht jeder Dorsch.
Außerdem hatten meine Freundin und ich einen recht emotionalen Moment im Leben, in dem ein Yo-La-Tengo-Song eine wichtige Rolle spielte. Quasi Rubrik: „Unser Lied“. Ich habe den damals ausgewählt, weil ich schon 1997, als er rauskam, wusste, dass der Song kaum zu toppen sein wird, meine Gefühlsduseligkeit nach außen zu kehren, und er hält sich bis heute ganz oben in der entsprechenden Bestenliste. Nicht nur deshalb, aber auch deswegen machten wir und der beste Freund uns am trüben Aprildienstag mal wieder in die Bundeshauptstadt auf – vorfreudig und emotional angeheitert. Ich bin ja schon älter und war bereits mehrmals auf Konzerten von YLT. Unvergessen dabei: 10 Jahre City Slang im Dresdner Bahnhof in Berlin. Da brach Ira Kaplan, von dem noch die Rede sein wird, das Konzert ab, nachdem ihm der Verstärker seiner Gitarren mehrmals einen Stromschlag versetzte. Aber „unser Lied“ hatten sie nie im Repertoire, wenn ich dabei war. Und so stand die spannende Frage am Firmament des Abends: Spielen sie ihn heute? Setlist.fm versprach eine fifty-fifty Wahrscheinlichkeit auf der This-Stupid-World-Tour, einer mal wieder besseren Platte von YLT aus dem Jahr 2022.
YLT bestehen seit 1984 aus dem Paar Ira Kaplan (Gitarre, Klavier, Gesang) und Georgia Hubley (Schlagzeug, Klavier, Gesang). Bis 1992 haben sie 13 Bassisten verschlissen, bis James McNew endgültig die Rolle bekam. Zwischendurch spielte ab und an noch Dave Schramm an der zweiten Gitarre mit. Huxleys Neue Welt neben der Hasenheide in Berlin ist ein ehrwürdiger Laden. In dem früheren Bierpalast habe ich denkwürdige Konzerte erlebt, zum Beispiel Les Négresses Vertes. Entgegen meinem Vorsatze, wer nichts erwartet, wird nie enttäuscht, liegt die Latte an diesem Abend dennoch hoch. Ich bin aufgeregt wie selten.
Kurz nach 20 Uhr im ausverkauften Huxley rumpelt und fiept sich das Trio aus New Jersey mit „Sinatra Drive Breakdown“ vom aktuellen Album lustvoll in den über zweistündigen Vortrag. Um mich herum werden Ohrstöpsel aus Papiertaschentüchern geformt. Die werden aber vorerst nicht gebraucht, weil der erste Teil des Konzertes aus zart-angehauchten, akustischen Stücken besteht. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Die Disziplin der zweitausend Auditor*innen ist gewaltig. Kein Handyton erklingt, keine Zwischenrufe, kein falsches Klatschen. Andächtiges Lauschen garniert mit Gähnen hier und da. Nach einer unnötigen 20-Minuten Pause feedbackt es dann noch ordentlich quer durch das gesamte Schaffen der Band. „Big Day Coming“, „Sugarcube“ und „Blue Line Swinger“ sind die Höhepunkte des Abends.
Der kleine, dünne Herr Kaplan, der gern auf der Bühne kniet, wurde auf dem Cover des ersten Albums „Ride The Tiger“ (Coyote Records 1986) als „naiver Gitarrist“ bezeichnet. Das passt auch noch heute. Die Legende besagt, er hat immer einen in Bernstein gefangenen Käfer in seiner Hosentasche, um Glück mit dem Instrument zu haben. 2012 kürte ihn das Spin zum 97. größten Gitarristen aller Zeiten. Ein Gitarrengott wird er nicht mehr werden, aber er kann sehr gut gniedeln.
Wir schreiben Hasenheide Berlin, April 2023. Keiner kann so verschwurbelt-schönen, schnodderig-unpräzisen Krach machen wie Yo La Tengo. Wer erwartet und nicht enttäuscht wird, ist ein glücklicher Mensch. Ich war nicht vom Glück beseelt.
Um 2 hing der Herbstpullover kalt am Bett.
Onkel Rosebud