Von Matthias Bosenick (15.11.2021)
Seit die Rechte an André Franquins fabelhaftem Comictier Marsupilami frei sind, taucht es auch wieder in seiner Heimserie auf, Spirou und Fantasio. Aber auch andere Aktivitäten sind nun offenbar möglich: Das Gespann Zidrou und Frank Pé ersinnt in offenbar mehreren dicken Wälzern die Geschichte davon, wie das schwarzgelbe Tier mit dem meterlangen Schwanz 1955 nach Belgien gelangte (also drei Jahre nach seinem ersten tatsächlichen Auftritt). Die Zeichnungen dazu sind wunderbar dunkel und bedrückend. Im Zentrum der Geschichte stehen jedoch das Trauma der Deutschen Besatzung Belgiens in der Nachkriegszeit und das Außenseitertum eines von einem Nazisoldaten gezeugten Antwerpener Jungen, das Tier selbst tritt erst später in Erscheinung und erregt natürlich die Aufmerksamkeit unterschiedlicher Interessengruppen. Damit verpassen Zidrou und Frank Pé die Chance, für diese Geschichte einen unerwarteten Rahmen zu wählen. Dafür indes sind die Bilder einfach formidabel.
Das Wort Marsupilami fällt hier nur einmal, weil der deutsche Verlag Carlsen es überflüssigerweise auf das Cover kritzelte (im Original fehlt es dort); in der Geschichte bleibt es aus, weil das Tier nur auf Menschen trifft, die nicht wissen, worum es sich handelt, und auch der Ort Palumbien als Herkunft wird nicht genannt. Vorwissen hilft bei der Wahl des Buches, kein Vorwissen zu haben schadet nicht. Der Auftakt ist so schwarz, wie es die Gedanken des Marsupilami-Erfinders Franquin bekanntlich waren: viele schwarze Flächen, ungewöhnliche Perspektiven, interessante Details im Hafen und an Bord des Frachters, auf dem eine Ladung Tiere aus Südamerika als Folge einer temporären Havarie auf See verreckte oder sich an den Kadavern labte. Als Beifang überrumpelt das Marsupilami den raffgierigen Reeder und den Kapitän und bricht aus.
Geiler Auftakt, brutal, böse, zynisch, dunkel, blutig. Doch dann macht die Geschichte einen Schwenk: François aka Franz, Sohn von Frau van den Bosche und einem Boche, wird von seinen Mitschülern – einer sieht aus wie Philipp Amthor und ist auch ungefähr so sympathisch – wegen seiner Naziabstammung gemobbt, während es seiner auf dem Markt mit Muscheln den Unterhalt zusammenkratzenden Mutter wegen der Liaison mit dem Uniformierten nicht besser geht. Allein der niedliche Grundschullehrer, der seinerseits wegen seiner unorthodoxen Unterrichtsmethoden einen schweren Stand beim Direktor hat, hält zu beiden. François hat zudem ein großes Herz für aus der Art geschlagene Tiere und richtete so einen Minizoo im armutgeplagten Heim ein.
Ja, diese Themen dominieren die Geschichte. Erst spät geht es um die Bestie: Natürlich findet François alsbald das heruntergekommene Marsupilami und peppelt es auf, nimmt es in die Schule und macht die falschen Leute darauf aufmerksam. Damit ist das Schicksal des Titelwesens auch schon abgesteckt, während das der Personen ausgiebig vertieft wird. Dramen über Dramen, eines erdrückender als das andere, Schuld und Elend, Trauma und Hoffnung. Diese Nachkriegsthemen beschäftigen viele Autoren auch in den One-Shots der Spirou-Reihe, immer und immer wieder; für „Die Bestie“ hätte man sich daher einen anderen Rahmen gewünscht, wer weiß, mehr Action, mehr Überlebenskampf, mehr was auch immer, womit man einfach nicht rechnet. Einen solchen One-Shot übrigens gibt es ebenfalls von Zidrou und Frank Pé, „Das Licht von Borneo“, einer der besten der Reihe überhaupt und erfreulicherweise zu einer anderen Zeit und mit anderen Themen stattfindend.
Und wenn man schon über die Geschichte enttäuscht ist, fällt einem umso mehr auf, wie uneins sich die Autoren in der Zielgruppe zu sein scheinen: Die Geschichte des Tiers so schwarz, die des Kindes so kindgerecht und die der Mutter und des Lehrers so schlüpfrig – eine befremdliche Mischung. Auch wenn die eingestreuten Gags auf den insofern brillant konstruierten Elementen fußen und nicht zwingend vordergründig, dafür in sich schlüssig sind. Dafür eben sind die Zeichnungen geil. Und zwar sehr geil. Die Mimik, die Perspektiven, die Körper von Mensch und Tier, keine Angst vor Nichthelden, keine Angst vor der Dunkelheit, großartig.
Tja, aber wenn man sich von Laien ausdenken ließe, wie die Geschichte im nächsten Band weitergeht, käme vermutlich irgendwas mit einem durchgeknallten Wissenschaftler auf der Jagd nach Ruhm, dem Zoo in Antwerpen und dem Bengel, der seine Tiere wiederhaben will. Und genau danach sieht es am Ende von Teil 1 tatsächlich aus. Klingt also so, als ginge es die Handlung betreffend enttäuschend weiter. Ob einem die Zeichnungen jedes Mal 25 Euro wert sind, wird man beim Überfliegen des nächsten Bandes wohl spontan entscheiden. Nach einer Neudeutung sieht es hier leider nicht aus, eher wie eine Interpretation der erzählerischen Lücken, die Franquin andeutete. Mehr Mut zur Eigenleistung wie in „Das Licht von Borneo“ wäre reizvoller gewesen. Und wenn die Geschichte schon drei Jahre später spielt als „Eine aufregende Erbschaft“, ist fraglich, ob Spirou, Fantasio und der Graf von Rummelsdorf in einem der nächsten Teile von „Die Bestie“ auftreten werden.