Von Matthias Bosenick (11.07.2024)
Hört sich anders an, als es sich liest: Das Duo Wildwood Morning sortiert sich irgendwie im Folk ein, aber sobald man dessen zweites Album „Hurt No Living Thing“ auflegt, erklingen Garagen-Fuzz, Surf-Twang, Mariachi-Trompeten, Reggae, krautige Psychedelik und Harmonien wie bei Nico, den Beatles oder Abba. Mit Geige, so viel Folk darf sein. So geht das: Genres funktionieren nur noch, wenn man sie überzeugend überkreuzt, und das begreifen Laura Lazzarin und Henning Wienecke, die beiden Köpfe hinter dem Berliner Projekt Wildwood Morning.
Die Musikgeschichte hält ja nun auch wirklich schon einiges bereit, auf das man zurückgreifen kann. Und das tun Wildwood Morning: Gleich der Opener „The Mood I’m In“ stößt Folklore-Puristen mächtig vor den Kopf, mit seinem übersteuerten Garagen-Fuzz zu honigsüßen Melodien; Wildwood Morning fassen dies als Tribut an Wiktor Zoi (Виктор Цой) auf, den verstorbenen Gründer der Gruppe Kino (Кино). Also nix mit Duo, hier hört man eine voll besetzte Band. Weil nun aber das Wort Folk irgendwo im Etikett steht, gibt’s auch die Geige zu hören, immer wieder mal eingestreut und zum ausgelassenen Tanzreigen ermunternd. Insbesondere die A-Seite hält haufenweise Ohrwürmer bereit, in „Shout Out“ etwa singt Lazzarin wie Nico, der Song strotzt nur so vor wundervoller Melodien. Ihr Kollege Wienecke hingegen intoniert das Intro zu „On A Windy Day“, als wäre er betrunken – bis das Stück allmählich in einen Reggae übergeht, den Wienecke vermutlich von seiner Ex-Band Charlie’s Choice mitbringt.
Die zweite Seite eröffnet mit dem Elfeinhalbminüter „The Lady“, der Prog-Prog ist, wenn nicht sogar Prog-Prog-Prog, hier geht jedwede Prog-Post sowas von ab, ständig wechselt die Stimmungslage, wechseln die Schubladen, wechseln die Instrumente, über psychedelische Kosmosreisen bis hin zum Orgelsolo, wieder mit Nico-Gesang, alles im Fluss und nachvollziehbar aufeinander folgend. „Who Has Seen The Wind“ ist ein – wie der Albumtitel – von der viktorianischen Dichterin Christina Rossetti rezitiertes Interludium, das die Hörenden auf einen Siebziger-Jahre-Kirchentag mit Schellenkranz und unerwartet psychedelisch dronender Gitarre entführt, Dann folgt abschließend das fast zehnminütige Titellied, das die pastorale Stimmung zunächst aufgreift und sich dann in einen griffigen Krautrock hineinorgelt. Bis zur Mitte, dann übernimmt ein Saxophon die Regie und die Begleitmusizierenden halten sich dezent wie im Siebziger-Classic-Rock zurück. Man kann sich denken, dass es so nicht bleibt – Wildwood Morning setzen abermals zum Sprung in andere Dimensionen an. Wir klängen etwa Pink Floyd mit Orgel? Hier findet man es heraus.
Es sprengt nun wirklich alle denkbaren Rahmen, was Lazzarin und Wienecke hier von Berlin aus entstehen lassen. Nicht allein: Die gniedelnden Gitarren-Soli und das Cover-Design kommen von Kiryk Drewinski (von der Berliner Heavy-Psych-Band Wedge, zudem Ex-Magnificent Brotherhood und Ex-Liquid Visions), Schlagzeug und Elektrische Violine spielen David und Elias Engler (vom Berliner Soul-Funk-Duo Tanga Elektra), Farfisa und Synthies steuert Manuel Puschmann bei (einst bei den psychedelischen Krautrockern Sir Robin & The Longbowmen aus Dresden) sowie weitere Gitarren und Gesänge Eva Ottmer und Tilo Schönknecht (von der Akustik-Folk-Band KiwanoKey aus Märkisch-Oderland). Eine Menge Verweise also zu weiteren Entdeckungen, falls man damit durch sein sollte, Wildwood Morning umfassend zu erfassen – das kann bei dem proppevollen Album schon eine Weile dauern.