Von Matthias Bosenick (09.02.2015)
Dieser argentinische Episodenfilm ist eine handfeste Überraschung. Die Geschichten ranken sich grob um das Thema Rache, aber nicht aus der typischen David-gegen-Goliath-Sicht, sondern eher Arschloch gegen Idiot, und eigentlich immer im Reichenmilieu. Man kann nicht wirklich zu jemandem halten, es gibt fast keine sympathischen Figuren, und doch sieht man den Menschen gerne und feixend beim Scheitern zu, denn alle haben dies vor lauter Borniertheit und Egozentrik genau so auch verdient. Damián Szifron gönnt sich den Spaß, die Geschichten in unvorhergesehene Richtungen weitab des Klischees und der Erwartungen driften zu lassen. Und er arbeitet mit vielen unorthodoxen Kameraeinstellungen. „Wild Tales“ ist filmisch und inhaltlich großes Kino.
Gleich die erste Sequenz steckt schon den qualitativen Rahmen ab. Keine weitere Episode übertrifft diese, doch alle halten das Niveau. In einem Flugzeug stellen die Passagiere fest, dass sie alle einen gemeinsamen Bekannten haben, den sie aber nicht ausstehen können – und entdecken dann, dass genau der in diesem Moment ihr Schicksal in der Hand hat. Das letzte Bild dieser Passage ist ein Bild für die Ewigkeit. Auch der mit der Kamera eingefangene Überblick im Passagierraum ist so klar wie nie in einem Flugzeugfilm, man fühlt sich, als flöge man mit. Der folgende Vorspann ist der nächste gute Witz: Er zeigt wilde Tiere in der jeweiligen Anzahl der erwähnten Credit-Namen.
Weiter geht es mit einem korrupten Kredithai in einem Schnellrestaurant, der auf die Tochter eines seiner insolvent gegangenen Kunden trifft; mit zwei gewaltbereiten Autofahrern, die sich auf leerer Straße gegenseitig ausgesetzt sind; mit einem persönlich beleidigten Familienvater und Sprengmeister, der als Folge seiner Beratungsresistenz gegen die Behördenwillkür rebellieren will; mit einem Reichen, der seinen Hausmeister mit Geld dazu bringen will, sich für den von seinem Sohn verursachten Unfalltod einer Schwangeren verantwortlich zu melden; mit einem Brautpaar, das sich in Eifersucht und Gewalt vereint.
Bei diesen Episoden bringt Szifron den Zuschauer nicht dazu, für den vermeintlich Schwächeren Partei zu ergreifen; den gibt es nämlich nicht. Zwar erinnert Manches an „Falling Down“, doch stoßen hier Leute an ihre Grenzen, die man ohnehin nicht mag, und sieht sie sich gegen andere Leute wehren, die man auch nicht mag. Man freut sich also nicht mit dem Schwachen, sondern ist selbst der Schwache, der Freude am Schaden der Arschlöcher hat. Die Geschichten nehmen dabei nicht die oft bekannte und erwartbare Wendung, dass etwa der Konflikt lediglich auf einem Missverständnis beruht; die Geschehnisse sind bis zur Eskalation genau so, wie man sie dargestellt bekommt, und damit überrascht die Art der Eskalation umso mehr.
Zusätzlich – und sicherlich auch protegiert durch seinen Produzenten Pedro Almodóvar – ist Szifrons „Wild Tales“ auch noch hervorragend gefilmt. Man hat eine Riesenfreude an den diversen Perspektiven und Kameraeinstellungen; so ist der Filmapparat einmal an einer Schwingtür montiert und folgt mit deren Aufklappen den Protagonisten oder zeigt aus dem Innern eines Zahlenfeldes eine Person beim PIN-Eingeben am Bankomaten.
Vielleicht sitzen nicht alle Pointen sattelfest, vielleicht ist nicht jede Geschichte ausreichend tragfähig über die Spielzeit. Aber das macht nichts. Man hat am Ende ein mehr als solides Werk gesehen und staunt, dass so etwas so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Das ist, mit Verlaub, großes Kino. Und für jeden, der sich mit den Verhältnissen in Argentinien auskennt, sicherlich ein doppelbödiger Spaß.