Von Guido Dörheide (15.04.2022)
„… I‘ve got a chaise longue in my dressing room and a pack of warm beer that we can consume“ – ich glaube, mit diesen unsterblichen Worten ließe sich problemlos jede Person (m/w/d) aus der ersten Reihe nach dem Konzert von der diensthabenden Vokalistin in den Backstage-Bereich abschleppen. Mit dem Song Schäselong sind Wet Leg im vergangen Jahr direkt aus der Lamäng viral durch die Decke geschossen, heuer ist nun das lang ersehnte Debütalbum des Duos von der Isle Of Wight erschienen und – hier mache ich gleich mal den Windabweiser – es enttäuscht von der ersten bis zur letzten Sekunde überhaupt gar kein bisschen. Klar hat „Chaise Longue“ aufgrund seiner Bekanntheit und des kolossal nervigen Refrains („On the chaise longue, on the chaise longue, on the chaise longue all day long, on the chaise longue“ – Wo nochmal? Ah, Moment, sie wiederholen die Zeile gerade, vielleicht kriege ich es dann noch mit…), der sich im Übrigen keinesfalls nervig, sondern einfach nur toll anhört, einen gewissen Ausnahmestatus auf dem Album, aber wirklich alle anderen Songs können es mit ihm aufnehmen – vor allem textlich.
Wet Leg bestehen aus den beiden Musikerinnen Rhian Teasdale (Gesang, Gitarre) und Hester Chambers (Gitarre, Backgroundgesang), die mit ihren Liedern über Geschlechtsverkehr und die Schlechtigkeit ihrer Exfreunde vormachen, wie man ganz hervorragenden Indierock gleichzeitig feministisch und schlüpfrig gestalten kann. Ich könnte jetzt stundenlang über die Texte des Albums dozieren, und weil Karfreitag ist und ich nichts anderes zu tun habe, mache ich das einfach mal, bevor ich mich der Musik zuwende:
Gleich im ersten Stück „Being In Love“ will sich die Protagonistin wieder hinlegen, nachdem sie eben erst aufgestanden ist; verliebt zu sein fühlt sich an „like someone has punched me in the guts“. Das sitzt. Darauf folgt „Chaise Longue“, siehe oben, anschließend wird die Geschichte von Angelica erzählt, die zunächst Lasagne zu einer Party mitbringt und versucht, mit jedem zu tanzen. In der nächsten Strophe bringt sie eine Strahlenkanone zur Party mit und löscht jeden aus. Das ist konsequent, das hat viel mit Achtsamkeit zu tun.
Ich kann hier nicht auf jeden einzelnen Song eingehen – deswegen lasse ich „I Don‘t Wanna Go Out“, in dem sich Teasdale mit ihrem dummen Gesicht, das ein verdammter Albtraum ist, ihr letzten Endes dann aber auch egal ist, auseinandersetzt, hier einfach mal aus. Dann kommt „Wet Dream“, ein absolutes Brett von einer Abrechnung mit dem Ex: Dort sieht die Ich-Erzählerin sich selbst im feuchten Traum ihres Ex, er fährt mit ihrem (!) Auto rechts ran, fummelt an sich selber rum und sie fragt sich – meines Erachtens absolut zu Recht – ob er denn meine, gut genug zu sein, bei sowas an sie zu denken. Dann steigt er auf die Motorhaube und leckt die Windschutzscheibe ab; sie hat noch nie sowas Obszönes gesehen und kommt zu dem Schluss, dass das genug wäre, um ein Mädchen rot anlaufen zu lassen. Das stimmt, und auch Vollgas geben und den Scheibenwischer anzumachen würde ihr jeder anständig denkende Mensch unbesehen durchgehen lassen.
So geht es weiter und weiter – die/der Hörende wird bestens unterhalten und erfährt nebenbei, wie leid die Mutter des Ex der Hauptakteurin tut, wenn sie darüber nachdenkt, was aus ihm geworden ist („Ur Mum“), und in „Piece Of Shit“ kriegt der junge Mann (oder ist es in jedem Song ein anderer?) nochmal die volle Breitseite: „You say you’re a genius, I say you must be joking – you’re like a piece of shit, you either sink or float“. Wunderschön. Anschließend werden das Mädchen und der junge Herr dann von der Security aus dem Supermarkt geworfen, in dem sie sich eigentlich recht wohl fühlt, weil es dort allen Scheiß zu kaufen gibt, dem sie ihm kaufen will, weil sie zu high sind, und im letzten Stück „Too Late Now“ wird dann in deutlichen Worten klargestellt, wie scheiße das Leben im Laufe des Lebens zu werden pflegt. Am Ende des Albums denke ich mir, dass die beiden Musikantinnen vermutlich (hoffentlich!) haufenweise Spaß gehabt haben beim Einspielen dieses Albums, und den Song mit dem immer scheißer werdenden Leben hoffentlich ironisch gemeint haben.
Andreas Borcholte – dessen Rezensionen ich immer sehr gerne lese und der mich schon auf viel gute, neue, hörenswerte, das Leben bereichernde Musik aufmerksam gemacht hat – schreibt bei Spiegel online vergleichend von Black Midi, Black Country, New Road und den Idles und nennt Wet Leg „das Partypendant zu ‚Dry Cleaning‘“, was mir für meinen Teil etwas zu weit geht. Die erstgenannten sind meines Erachtens teilweise sperriger und unmelodiöser, teilweise musikstilmäßig breiter aufgestellt, und „Dry Cleaning“ sind schon allein (sprech-)gesangsmäßig auf komplett anderen Pfaden unterwegs als Wet Leg. Letztere bieten gitarrenorientierten, nach vorne losgehenden und vor allem von einer absolut wunderschönen Stimme, die immer sehr jung klingt und in den Texten allen älteren Kerlen die Lebenserfahrung um die Ohren schlägt, dass es einem wahrlich ein innerer Weltspartag ist, gekrönten Indierock, der zu jedem Anlass passt und die/den Hörenden aus jedem nur denklichen Tief zu ziehen vermag. Und am Ende muss ich noch einmal auf „Ur Mum“ zurückkommen: Mit „Okay, I’ve been practicing my longest and loudest scream – Okay, here we go – One, two, three“ lässt Rhian Teasdale dann tatsächlich den angekündigten Schrei erklingen und dieser untermalt gefühlt 9 Parsecs lang den einfach weitergesungen Refrain. Ich hatte das Wet-Leg-Album heute Mittag leise im Hintergrund zu laufen – bei diesem eindrucksvollen Schrei mussten meine beiden zauberhaften Mittagsgäste dann doch aufhorchen – ein echter Hinhörer – ebenso wie das ganze Album.