Von Matthias Bosenick (05.04.2021)
Wenn man als Drehbuchautor eine Geschichte nur dann so voranbringen kann, wie man es möchte, indem man Logiklöcher umschifft, hat man dafür zwei Möglichkeiten: verdrehte Erklärungen konstruieren oder blind drüberwegerzählen. Für die Netflix-Serie „Wer hat Sara ermordet?“ entschieden sich die Produzenten für zweitere Option. Mit der Erzählweise, zwischen den Zeitebenen und den Figuren im Zickzack zu springen, erzeugen sie einen fesselnden Sog, obgleich man sich unablässig fragt, warum man trotz der Löcher im Drehbuch überhaupt dranbleibt. Und dann bringen sie die Antwort auf die Titelfrage noch nicht mal am Ende der ersten Staffel, sondern setzen im Mai – immerhin schon! – die Story mit einer zweiten Staffel fort.
Vorweg sei gespoilerwarnt! Eine Gruppe Jugendlicher verlustiert sich auf dem Anwesen der Eltern zweier beteiligter Brüder mit Motorboot und Fallschirm, von dem ein Mädchen abstürzt und stirbt. Der despotische Clanchef überredet den Bruder des Mädchens dazu, anstelle des vermeintlichen Verursachers, einem seiner Söhne nämlich, für wenige Wochen in den Knast zu gehen. Nachdem der jedoch eiskalt für 30 Jahre verknackt wurde, zieht er, nach 18 Jahren vorzeitig begnadigt, in einen multimedialen Rachefeldzug gegen diese Familie und versucht, den wahren Mörder seiner Schwester ausfindig zu machen. Vielleicht.
Voll spannend erstmal, aber die Drehbuchautoren wollen da mehr drin haben. Álex, so der Name des unschuldig Verurteilten, ließ sich im Knast zum Superhacker schulen. Er hackt sich ins Intranet des Casinos ein, das dem Despoten „Don“ César gehört, und lässt für alle sicht- und hörbar eine Drohbotschaft über die dortigen Monitore (und Lautsprecher!) ab. Das macht er aber nicht aus einer sicheren Deckung heraus, sondern aus seinem Haus, das allen bekannt ist, und prompt schickt César wahlweise „meine Männer“ (Synchron) oder „die Polizei“ (Untertitel) vor, um Álex mit einigen Gewehrsalven und Prügel einzuschüchtern. Elisa, jüngste Tochter Césars, weiß von der damaligen Tragödie nichts und schlägt sich auf Álex‘ Seite. Der wiederum bekommt virtuell zusätzlich Schützenhilfe von einer Person, die sich „Diana, die Jägerin“ nennt und behauptet, den Mörder zu kennen, weil sie dabei war. Parallel zerfleischt sich die Familie Césars: Sohn Chema ist schwul und Sohn Rodolfo, der zunächst vermeintliche Mörder, kann seiner Frau seit fünf Jahren kein gemeinsames Kind schenken. Parallel geistern noch Elroy, den Césars Frau Mariana als Kind auflas, Sergio, der im geheimen Keller von Césars Casino einen Puff betreibt und Snuff-Videos dreht, und Bruno, der Sohn aus erster Ehe von Rodolfos Frau, um die Figuren herum. Ach ja, und dann gab es da ja noch Sara, die, wie es sich alsbald herausstellt, nicht nur mit fast allen mal Sex hatte, sondern auch noch Standesdünkel und somit reichlich unsympathisch war. Wie eigentlich fast alle Figuren.
Nach und nach bekommt man immer mehr Informationen, die Geschichte springt zwischen den Figuren und den Zeitebenen herum, dass es einem den Kopf verdreht. Nur so gelingt es den Autoren zunächst auch, die Lücken in der Geschichte diffus und die Spannung hoch zu halten. Solche Lücken wie: Als Bruno sich in den geheimen Keller schleicht, in den ihn César zuvor noch selbst schleppte, um ihn zum Mann zu machen, na klar, bleibt er von allen Sicherheitskameras unentdeckt, als sich aber Álex auf gleichem Wege in die Katakomben flüchtet, ist das auf den Monitoren nachvollziehbar. Heißt: Wenn Álex es in der ersten Episode schaffte, sich in das Überwachungskameranetz zu hacken, warum hat er dann die aus dem illegalen Puff nicht mit entdeckt? Damit hätte er sofort ein Druckmittel gegen César in der Hand gehabt. Serie vorbei. Und warum wartet Diana mit ihren Enthüllungen auf Álex‘ Entlassung und stellt die Dinge nicht sofort richtig? Warum zögert sie die Auflösung zudem auch noch künstlich heraus, anstatt ihm sofort alle Infos zu geben? Serie vorbei. Warum überlässt César, der nach eigener Aussage noch mehr Macht hat als 18 Jahre zuvor, die Inschachhaltung Álex‘ Rodolfo, dabei weitere Enthüllungen in Kauf nehmend, anstatt ihn tatsächlich einfach vom Feld zu räumen? Serie vorbei. Warum verbrennt Chema die Videos von dem besagten Wochenende, nur weil sie möglicherweise seine erblühende Homosexualität belegen, anstatt sie auf Hinweise nach dem Mörder zu untersuchen? Serie vorbei.
Dazu kommen unzählige weitere Fragen. Wie: Das vermeintliche Tatmesser taucht im Wortsinne 18 Jahre, nachdem Mariana es ins Wasser warf, völlig korrodiert aus dem See wieder auf – von wem geborgen und warum nicht sofort? Warum wirft Elisa das Handy ihrer Mutter in eine Vase, um es vor Álex‘ Zugriff zu schützen, wenn sie sich doch an seine Seite stellt? Warum erzählt Rodolfo seiner Frau nicht, dass er sich hat sterilisieren lassen? Das erspart ihr doch fünf Jahre sinnlosen Sex – und Fremdgehen mit César, ausgerechnet. Warum poppte Sara überhaupt mit César? Was bringt sie dazu, gegen Schwule und Arme zu wettern? Warum lädt Chema seine bekloppte Arschlochfamilie zu einem Essen ein, um zu erzählen, dass er und sein Freund Lorenzo Eltern per Leihmutter werden wollen, wenn er doch weiß, dass er nicht akzeptiert ist, und warum gehen auch alle brav hin? Ansonsten wäre es nämlich nicht zu der hässlichen Enthüllung vor aller Augen und Ohren gekommen, dass César etwas mit Rodolfos Frau hat. Die ganze Geschichte entwickelt sich bald zu einer unterdurchschnittlichen Telenovela. Der Seitenarm mit dem Schläger-Ex der Leihmutter ist außerdem eins zu viel.
Nicht zuletzt: Wenn Sergio illegale Prostituierte für seine Snuffs umbringt, warum entsorgt er sie unverscharrt auf Baustellen und sammelt die Videotapes dazu mit den Namen der Frauen offen in seinem Büro? Warum guckt sich Sara überhaupt ein solches Video an, wenn Sergio nur mal ein Getränk für sie holt? Damit es einen weiteren Verdächtigen gibt. Warum bleiben der Tod des Buchhalters, den Elroy verursachte, von wem initiiert überhaupt, und der Mordanschlag an Rodolfo in der Sauna unaufgeklärt? Warum erinnern sich die Beteiligten erst kurz vor Ende der Staffel daran, dass da ja damals noch jemand mit auf dem Boot war, der auch noch filmte? Und warum wird selbst aus Álex bald ein Unsympath, der nur noch unmotiviert vor sich hin agiert, anstatt seine Rache voranzutreiben? Weil sonst einmal mehr die Serie eben viel zu schnell vorbei gewesen wäre.
Die Show stellt ihrer Geschichte ein Zitat von Agatha Christie voran. Tatsächlich hat man es hier wohl mit einem Whodunit zu tun, allerdings nicht mit klassischer Ermittlung und schon gar nicht mit einem Ermittler. Dafür mit einem bunten Reigen an Arschlöchern zumeist aus besserem Hause, die allesamt recht nachvollziehbar dargestellt sind, wenngleich man sich Mexico so nicht wirklich vorstellt. Manche Kameraeinstellungen sind ungewöhnlich, manchmal wünschte man sich da auch mal mehr Kreativität. Der angenehme Score bedient nur oberflächlich die Partymucke eines Casinobetriebs oder von Jugendpartys, vielmehr tangiert die Elektromucke bisweilen EBM, Bigbeat und Industrial, wenn auch nur leicht. Auf jeden Fall ist die Musik um längen besser zu hören als jedes aktuelle Radioprogramm. Reichlich überflüssig indes sind die ganzen Sexszenen, dafür freut man sich, dass in den Diskussionen der Geschwister die Einsicht über den endlosen Zoff siegt.
Wer Sara letztlich auf dem Gewissen hat, bleibt offen. Es offenbart sich über ihr Tagebuch jedoch, dass auch sie im Wortsinne Leichen im Keller hatte, und da setzt dann wohl Staffel 2 an. So richtig interessant ist das aber nicht wirklich, ebenso wie die Antwort auf die Titelfrage. Man wundert sich einmal mehr, warum es für Serien und Filme so große Budgets gibt, dass davon für vernünftige Drehbücher aber so wenig abfällt. Ist das Unvermögen – oder Absicht und damit offene Verarschung? Und warum guckt man sich das dann doch an? Nun, reichlich spannend ist die Serie, auch mit dem Wissen um die Lücken, man freut sich, dass auch die Reichen und Schönen nicht unantastbar sind, und außerdem ist Lockdown und Ostern und was gibt‘s morgen eigentlich zum Mittag?