Von Onkel Rosebud / Norman Sharp
Stellen Sie sich vor …
Also, im Sinne von: Führen Sie sich geistig vor Augen, meine ich. Versuchen Sie, sich vorzustellen, es sei November. Ein trüber Sonntagnachmittag tröpfelt träge dahin. Sie hängen mangels eines schickeren Planes bei irgendeinem Ihrer Kumpels herum. Nichts ist angesagt, und folglich tut sich auch nichts. Sie fühlen sich, als könnten Sie eher keine Bäume ausreißen. Nicht allzu schwer, sich das vorzustellen, oder?
Verlegen Sie die Szenerie aus Gründen größerer Abstraktion in eine andere Zeit, sagen wir, tief ins Ostdeutschland der Achtziger – das heißt, streichen Sie alle schrillen und die meisten bunten Farbtöne. Lassen Sie ein wenig Putz bröckeln und morsches Mauerwerk darunter hervorscheinen. Als Hintergrund ziehen Sie am besten einen fahlgrauen Packpapierhimmel auf, durchschnitten von kahlem, klammem Geäst.
Falls Sie sich noch erinnern, versetzen Sie sich in eine Stimmung, wie auch Sie sie als Teenager gekannt haben müssen, als die Fäden Ihres Lebens noch lose vor Ihnen zu liegen schienen, in diesem unsicheren Dasein noch fernab aller mühsam erkämpften Abgeklärtheit. Keine Angst, all das spielt sich nur in Ihrem Kopf ab. Gestatten Sie sich ruhig so etwas wie Arglosigkeit.
So weit, so trist. So Ihnen diese kleine Imaginationsübung gelungen ist, malen Sie sich als nächstes aus, wie Ihr Freund schließlich mit der Idee daherkommt, man könne ja diese Bekannte von ihm besuchen. Die hätte ihm letztens ihre Adresse gegeben. Am Sonntagnachmittag hätte sie meist sturmfrei, habe sie da gemeint, und allzu weit weg ist es auch nicht. Zwei, drei Fragen Ihrerseits bringen zutage, daß Sie die betreffende Tante vermutlich sogar flüchtig kennen; auf irgendeiner Party, glauben Sie, haben Sie doch neulich ein paar Worte mit der gewechselt? Klar, was soll’s, sagen Sie, und sie zockeln zusammen los.
Bald darauf finden Sie sich im Treppenhaus einer reichlich heruntergekommenen Stadtvilla wieder, und durch die sich in mehreren Farbschichten entblätternde, zitternde Kassettentür wummern Ihnen ein paar Bässe entgegen – sagenhaft, denken Sie. Ehe Sie Gehör finden, müssen Sie ausdauernd klingeln, doch das erscheint Ihnen angesichts des Geräuschpegels nicht unbedingt verwunderlich. Schließlich fliegt die Tür auf, und dieses schmale, blondbezopfte Mädchen in ihren hundertfach geflickten Jeans äugt Ihnen entgegen, verschwitzt und augenscheinlich etwas unwirsch ob der Störung. Die Musik, die Ihnen da so ohrenbetäubend entgegendröhnt, haben Sie wohl schon mal irgendwo gehört, so will es Ihnen jedenfalls scheinen, doch im Moment wissen Sie nicht so recht. Wo das Ganze einordnen?
Das Mädchen ruft Ihnen zu: Na kommt halt rein, wenn Ihr schon mal da seid, rückt ihre mit einem grasgrünen Veloursfrosch verzierte Baskenmütze zurecht, und wupp! taucht sie zurück ins Halbdunkel der Wohnung. Ihnen bleibt, einen ratlosen Blick mit Ihrem Freund zu tauschen und hinterherzuspringen. Sie landen in einem mit unbeschreiblich viel Schall angefüllten Flur von den Ausmaßen einer mittleren Turnhalle, den wahrzunehmen Ihnen allerdings nur am Rande gelingt, denn der allergrößte Teil Ihrer Aufmerksamkeit wird umgehend durch den Anblick Ihrer Gastgeberin in Anspruch genommen, derer Sie nun ansichtig werden, wie sie vor einem riesigen Wandspiegel abrockt oder vielleicht auch nur vergeblich versucht, einen Tobsuchtsanfall unter Kontrolle zu bekommen. Übermütige Haarsträhnen, die es weder bis in den Zopf noch unter die Mütze geschafft haben, stehen ihr von der Stirn wie kleine Antennen. Sie denken noch, was ist das denn hier, was läuft hier ab, und eine Art anschwellendes Rauschen in Ihren Ohren hindert Sie weiterhin an einer erfolgreichen Identifikation der Musik.
Sie haben die undeutliche Empfindung, Ihr Denken müsse auf so etwas wie Notbetrieb umgeschaltet worden sein; seine kärglichen Reste kreisen um einige wenige zentrale Fragen wie um einen weißen Zwerg: Sollte dies hier tatsächlich dasselbe Mädchen sein, dem Sie vor einem knappen Monat bereits einmal begegnet waren? Mit dem Sie lediglich ein paar Höflichkeitsfloskeln gewechselt hatten, und das Ihnen seither kaum mehr in den Sinn gekommen war? Ist es möglich, daß Sie dieses sonderbare Wesen allen Ernstes vergessen konnten?
Zusehends wird Ihnen bewußt, wie Sie in diesem Flur herumstehen – sehr wahrscheinlich wie ein Vollidiot –, und als Sie endlich etwas dagegen unternehmen wollen, müssen Sie feststellen, daß eine gewisse Weichheit sich ihrer Knie bemächtigt hat. Erst Sekunden bevor sie ins Nebenzimmer huscht, um den Plattenspieler abzustellen, wird Ihnen klar, daß Sie die ganze Zeit dem „Highway Star“ von Deep Purple lauschten – einem Werk, mit dem Sie sich eigentlich durchaus vertraut wähnten. Mit zerstörerischem Knirschen hebt sie die Nadel exakt in dem Moment aus der Rille, da es sich gerade seinem dramaturgischen Höhepunkt entgegensteigert, unmittelbar vor dem dritten und wahnwitzigsten Part von Richard H. Blackmores Gitarrensolo – jener notorischen Passage also, die Dieter vornehm wegließ, als die Puhdys das Stück für eine ihrer ersten Singles coverten. Womit natürlich keineswegs die Verdienste dieser Pioniere ostdeutscher Beatmusik kleinlich herabgewürdigt werden sollen. Doch ich schweife ab, verzeihen Sie …
Es geht ja noch weiter! Stellen Sie sich vor!
Stellen Sie sich vor, das Mädchen verstaut das Album mit der goldfarbenen Hülle wieder im Schrank ihres NVA-bedingt aushäusigen großen Bruders – nicht ohne darauf hinzuweisen, letzterer brächte sie gewiß mindestens um, bekäme er je heraus, daß sie sich auch nur in die Nähe seiner unersetzlichen Westplatten gewagt hat. Mit Mühe gelingt es Ihnen, den Titel zu registrieren, „Made In Japan“. Ja richtig, wie hatte Ihnen das nur entfallen können?
In dieser plötzlichen, überbordenden Stille werden Sie nun in die Küche gebeten, wo Kaffee für Sie bereitet wird, geradezu höllisch stark, wie Sie finden. Nach und nach stellen sich weitere Gäste ein, die Ihnen ausnahmslos völlig unbekannt sind. Ihr Puls scheint Ihnen leicht erhöht, was Sie gern dem Kaffee zugutehalten möchten. Von den sich im weiteren Verlauf entspinnenden Gesprächen – einschließlich Ihrer eigenen Beiträge dazu – wird Ihnen noch am selben Abend kein einziges Wort mehr erinnerlich sein; das Muster der Wachstuchdecke auf dem Küchentisch dagegen können Sie noch Jahre später aus dem Gedächtnis hinzeichnen. Bisweilen versteigen sich Ihre Augen unter halbgesenkten Lidern zu kurzen Blicken auf die matt schimmernden Arme des Mädchens, das Ihnen genau gegenübersitzt, in ihrem lila gefärbten Herrenunterhemd jetzt ohne die Mütze mit dem Frosch, die Haare auf rätselhafte Weise hochgesteckt.
Können Sie sich das vorstellen? Und können Sie sich vorstellen, in Ihrem Kopf fände währenddessen unausgesetzt eine Art geistiger Leerlauf statt, eine irre Abfolge sämtlicher Symbole, die Sie jemals erlernt haben, um sich in dem zurechtzufinden, was wir mangels eines treffenderen Ausdrucks als Realität bezeichnen – eine nichtendenwollende Kaskade von Piktogrammen, eingefrorenen Bewegungsmustern, Zahlen und Buchstabenkombinationen am Rande Ihres Gesichtsfeldes, die sich nicht abstellen läßt, selbst dann nicht, als Sie längst zusammen mit Ihrem Freund und all diesen beunruhigenden Fremden das Mädchen zum Bahnhof begleitet haben, wo es lachend in einen Zug gestiegen und im Handumdrehen Ihren Blicken entschwunden ist?
Nun denn. Nach solch anstrengender Hirnakrobatik will ich den eventuellen Fortgang der Geschichte gern vollkommen Ihrer Phantasie überlassen. Nicht ganz unvorstellbar wäre ja eventuell das folgende Szenario: Die Wege der beiden Hauptgestalten trennen sich, wie das eben so geht, nach einigen gemeinsamen Jahren. Das Album mit der goldfarbenen Hülle hingegen, welches der männliche Protagonist dank seiner trefflichen Verstrickungen in den landesweiten Schwarzhandel mit Schallplatten aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ohne großen Verzug für seiner Meinung nach absolut vertretbare 220 Ostmark erwirbt, schlummert auch Jahrzehnte später noch wohlverwahrt in dessen Plattenschrank. Nur noch selten gehört wohl. Mitnichten eine seiner heiligen Lieblingsplatten. Weggeben indessen ist dennoch keine Option.
P.S.: Dieser Text erschien zuerst im Buch „Various Artists – Ich Liebe Musik Vol. 2“ (2020, Windlust Verlag) und wurde von Norman Sharp über den Song „Highway Star“ von Deep Purple geschrieben.