Von Onkel Rosebud / Falk Rebbe
In den Krimis von Wolf Haas bekommt der Privatdetektiv Simon Brenner oft Hinweise auf die Lösung des Falls aus seinem Unterbewusstsein in Form von Melodien oder Textzeilen. Leider versäumt es Brenner, auf sein Unterbewusstsein zu hören, sodass er erst nach dem trotzdem irgendwie gelösten Fall erkennt, was ihm mitgeteilt wurde.
Das kann ich gut verstehen. Auch mein Unterbewusstsein kommuniziert mit mir häufig auf diese Weise. Als Grundlage habe ich mir durch intensives und häufiges Musikhören eine große Datenbank aufgebaut, auf die ich zugreifen kann.
Trete ich auf die Straße und ein Wahlplakat verspricht 1.000 Polizisten, tönt sofort ein Schmuse-Mitsing-Pogo-Evergreen*) der Band Müllstation in meinen Ohren: „Tausend Polizisten singen, tausend Polizisten springen, sowas war noch niemals da, Pogo im VPKA“. Das ist schön, sorgt für innere Unterhaltung und einen guten Start in den Tag. Wenn das mehrmals in der Woche passiert, wird es allerdings lästig und ich freue mich, dass eines Tages mir nicht unsympathische junge Menschen das Plakat verkleinert haben, sodass die Zeilen nicht mehr zu lesen sind.
Ich finde diese innere Musik sehr natürlich und gehe davon aus, dass es den meisten Vielmusikhörern ähnlich geht. Vielleicht schreibt sogar noch jemand anderes in diesem Buch davon.
Sehr gut funktionieren Lieder mit deutschen Texten. Wenn ich nach Bitterfeld muss, wäre es ein Frevel, dabei nicht innerlich „Bitterfeld, Bitterfeld du Herzstück der Nation, Bitterfeld, Bitterfeld, der Tod der wartet schon“ der Band Papierkrieg zu summen. An schönen Sommertagen sollten einem unbedingt die Zeilen „… und trinken warmes Bier im Park“ von Tocotronic durch den Kopf gehen. Funny van Dannen geht eigentlich fast immer, auch ein Herausgeber dieses Buches wurde schon „im Regen stehen die Bauarbeiter, warum machen sie nicht weiter“ singend angetroffen. Auch englischsprachige Lieder sind geeignet. Wenn man in der Kaufhalle seinen Einkaufszettel verloren hat, bietet es sich an, zumindest die Zeilen „I’m all lost in the supermarket, I can no longer shop happily“ der Band The Clash dabei zu haben (auch schön, etwas später im selben Song: „I empty a bottle, I feel a bit free“).
Spannender als diese textlichen Bezüge, die ähnlich wie Bibel- oder Max-Goldt-Rezitationen funktionieren und bei denen es zu jedem Erlebnis eine passende Textstelle gibt, ist vielleicht der musikalische Bezug. Man summt innerlich eine Melodie, oft ohne wirklich zuzuhören, die womöglich durch irgendein Ereignis des Tages ausgelöst wurde, an das man sich nicht mehr erinnern kann. Wer weiß, was einem die Melodie sagen will. Wer weiß, wie sie die augenblickliche Gefühlslage bestimmt. Vielleicht ist es aber auch umgedreht. Man hat eine Melodie in sich und diese bestimmt die Gefühle und Gedanken des Tages. Es könnte sogar sein, dass die Schwingungen der inneren Melodie durch andere Mitmenschen wahrgenommen werden. Es ist sicherlich ein Unterschied, wie man jemanden begegnet, der innerlich die „Ode an die Freude“ oder „Murder“ von Extreme Noise Terror summt. Und mit wem kommt man eigentlich besser klar? Wahrscheinlich mit dem, mit dessen Lied das eigene gerade besser harmoniert.
Eine für mich erziehungsberechtigte Person wies mich früher einmal darauf hin, dass das Gehirn bei jedem Musikhören die konkrete Situation des Musikhörens mit aufzeichnet und entsprechenden Speicherplatz besetzt. Das würde bedeuten, dass ich für jedes der ca. 430-mal, die ich die „Fresh Fruits For Rotting Vegetables“-LP der Dead Kennedys gehört habe, eine Tonspur mit den jeweiligen Begleitumständen im Kopf habe. Einschließlich der damaligen Gefühle! Was für eine ungeheuer schöne Datenbank. Wie hört man sich das denn an? Das Ziel des Hinweises bestand allerdings darin, mich zu ermuntern, meine Zeit mit etwas anderem zu verbringen, so zum Beispiel Lernen. Ich habe das intensive Musikhören aber beibehalten. Meine Datenbank vermutlich auch. Die kann mein Unterbewusstsein immerhin dazu nutzen, mir unverständliche Hinweise zu geben und ggf. mal einen Kriminalfall zu lösen. Da wäre es allerdings gut, zuzuhören.
So wie eines Tages in kaltem klarem Wasser in einem See in Mecklenburg. Ich bin schon über einen Kilometer geschwommen, es sieht nach Regen aus, das Ufer ist noch weit entfernt. Gleichmäßige Bewegungen, die Gedanken werden ruhig. Und plötzlich höre ich Klänge in mir, die offensichtlich schon länger da waren, die ich aber nicht gehört hatte. Klaviertöne, die sich langsam vorwärtstasten, wie Sonnenstrahlen, die an windigen Tagen vereinzelt durch die Wolken scheinen. Das Lied heißt „Gnossienne No. 1“ von Erik Satie und ich hatte bis zu diesem Moment immer gedacht, dass das ein trauriges Lied ist. Dabei ist das Lied genauso traurig wie Vogelgesang oder der Klang von Regentropfen, die auf die Erde fallen.
P.S.: Dieser Text erschien zuerst im Buch „Various Artists – Ich Liebe Musik Vol. 2“ (2020, Windlust Verlag) und wurde von Falk Rebbe über den Song „Seed Song“ der Mountain Goats geschrieben.